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Prof. Dr. Gunter Scholtz: Zum Workshop „Person und Subjekt im deutsch-russischen Kulturtransfer“

1. Seitdem es Begriffsgeschichte gibt, wird sie auch kritisiert und zwar vor allem von Linguisten, die eine solide wissenschaftliche Basierung dieses Verfahrens vermissen. Man kann sich die Berechtigung dieser Kritik durch die Tatsache verständlich machen, dass der Ausdruck „Begriffsgeschichte“ sehr schwer in fremde Sprachen überzsetzbar ist. Der englische Ausdruck history of concepts entspricht ihm nicht, weil er die Zeichen, die Sprachgestalt der Wörter, nicht mit einbegreift. Und wählt man die Formulierung history of words, wäre das wiederum einseitig, weil Begriffsgeschichte eben nicht bloß Wortgeschichte ist, sondern den Blick auch auf die sogenannten Probleme richtet und außerdem nie alle Wörter zum Gegenstand hat. Daraus folgt aber schon das Spezifikum der begriffsgeschichtlichen Methode. Sie konzentriert sich auf bestimmte, wichtige Wörter, und sie richtet sich sowohl auf die Form der sprachlichen Zeichen als auch auf deren Bedeutungen und Funktionen und zeichnet auf beiden Ebenen die Konstanten und die Brüche, die Änderungen nach.

Dies Verfahren wurde ausgebildet, als man erkannte, dass die Sprache in allen Bereichen – auch in der Wissenschaft – im Wandel begriffen ist und dass es verschiedene Denkweisen und Sprachen gibt, so verschieden wie philosophische Systeme, Schulen, Wissenschaften, Epochen, Nationen, Kulturen. Begriffsgeschichte ist deshalb der reflektierte Umgang mit Differenzen, mit zeitlichen, kulturellen, wissenschaftlichen, sozialen und politischen. Sie ist unspektakulär und erregt selten große öffentliche Aufmerksamkeit. Aber sie ist ganz offensichtlich unvermeidlich, wenn die faktischen Differenzen zwischen verschiedenen Systemen des Denkens und Sprechens ins Bewusstsein traten.

2. Aus diesem Grund sind in fast allen Geisteswissenschaften inzwischen begriffsgeschichtliche Handbücher entstanden oder in Arbeit. Und sie zeigen, dass man in all diesen Disziplinen die Unterschiede zu beachten gelernt hat. In der Literaturwissenschaft handelt man nicht mehr unbefangen von der Klassik und vom Klassischen, sondern man zeigt zuerst, was unter diesem Begriff verstanden wurde und was man selbst damit meint. Das neue Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft gibt dafür die nötigen Informationen.

Freilich unterscheiden sich die Handbücher, je nach Disziplin und je nach Schule. Deshalb kann man die philosophische Begriffsgeschichte etwa von der historischen oder der musikwissenschaftlichen abheben – die einschlägigen Handbücher von Ritter, Koselleck und Eggebrecht präsentieren uns ja in ihren Vorworten ganz verschiedenen Konzeptionen. Sodann wird zuweilen scharf etwa zwischen der traditionellen Begriffsgeschichte und einer neuen Diskursgeschichte unterschieden. Aber in der wissenschaftlichen Praxis lösen sich solche Unterschiede oft auf. Z.B. hat Manfred Riedel sowohl für Ritters philosophisches Wörterbuch als auch für Kosellecks Geschichtliche Grundbegriffe jeweils den Artikel „bürgerliche Gesellschaft“ verfasst, und man wird finden, dass sich diese beiden Artikel sehr ähnlich sind. Oder: Kollege Plumpe veröffentlichte im Archiv für Begriffsgeschichte einen Aufsatz über den Begriff „Eigentümlichkeit“, der dann auch in einen Sammelband über Diskursgeschichte aufgenommen wurde. Unterscheiden sich also wirklich eindeutig philosophische und historische Begriffsgeschichte, Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte?

Es gilt m.E. einzusehen, dass der Kern der Sache stets derselbe ist, nämlich die Berufung auf den faktisch nachweisbaren Sprachgebrauch. Mögen die philosophischen Schulen und Interpretationsgemeinschaften noch so zerstritten und mögen die Kulturen noch so verschieden sein – das, was niemand bestreiten kann und was alle anerkennen müssen, ist dies, das bestimmte Wörter in bestimmten Kontexten eben gebraucht wurden. Da die Geisteswissenschaften als weiche Wissenschaften gelten und man sie sogar zu Unwissenschaften, zur bloßen Literatur erklärt hat, ist es wichtig, dass sie jenen harten Kern, diese nicht zu leugnenden Fakten, festhalten, und das tun sie z.B. in und mit der Begriffsgeschichte. Dadurch unterscheidet sich die Begriffsgeschichte aber auch von der Problem- und der Ideengeschichte, die beide das feste Halteseil der Sprache loslassen. Deshalb könnte man z.B. in der Zeitschrift History of Ideas auch gut einen Aufsatz über die Idee der Geschichtsphilosophie bei Platon und Aristoteles publizieren, was im Archiv für Begriffsgeschichte nicht möglich wäre.

Es ist deshalb zu begrüßen, wenn das vorliegende Projekt im Sinne der Begriffsgeschichte den Sprachgebrauch untersuchen will. Denn ganz gleich, ob man die Denkweisen in Russland und Deutschland verwandt oder sehr verschieden findet, sie aus östlicher oder westlicher, materialistischer oder idealistischer Perspektive betrachtet, niemand wird leugnen können, dass sich die in der angezielten Materialsammlung aufgewiesenen Belege eben faktisch in den überlieferten Quellen finden. Diese Materialbasis liefert das, was alle Formen der historischen Semantik – sie mögen sich Begriffsgeschichte oder Diskursgeschichte oder anders nennen – stets benötigen, wenn sie überhaupt als wissenschaftliche Verfahren gelten wollen: das empirische Fundament.

3. Wenn ein Gemeinschaftsprojekt zur historischen Semantik in Angriff genommen wird, ist der erste mögliche Streitpunkt die Auswahl der Lemmata. Der Vorteil des vorliegenden Projektes besteht in der Beschränkung. Nicht alle wichtigen Begriffe, sondern nur die für den Bereich der „menschlichen Identität“ sollen untersucht werden, und Person und Subjekt werden dafür als Titelbegriffe eingesetzt. Man erkennt daran, dass dem Projekt so etwas wie eine Idee oder Konzeption zu Grunde liegt, die zwar in der Sprache zum Ausdruck kommt, die aber nicht an ein einzelnes Wort gebunden ist. Und darin bestätigt sich, dass wir es hier mit Begriffsgeschichte, nicht bloß mit Wortgeschichte zu tun haben. Schließlich soll ja auch eine Hypothese, ein Vorurteil überprüft werden: die Behauptung des angeblichen Fehlens der personalen Identität im Denken Russlands. Deshalb auch stehen die Begriffe Person und Subjekt im Zentrum und nicht der Begriff des Menschen.

Der Antrag sieht vor, insgesamt fünf Artikel in das projektierte Lexikon aufzunehmen:

1. Person/Persönlichkeit, 2. Individuum/Individualität, 3. Ich, 4. Subjekt, 5. Selbst/Selbstbewusstsein. Hier stellt sich zuerst die Frage, warum zum Ich nicht auch die Ichheit bzw. Egoität und zum Subjekt nicht auch die Subjektivität hinzutreten sollen (was ich empfehlen würde, wenn sich dazu in der russischen Sprache Äquivalente fänden). Und sodann fragt sich, wieso es zu Person und Persönlichkeit nicht zwei, sondern nur einen Artikel geben soll. Das Historische Wörterbuch der Philosophie ist in diesem Punkt anders, aber auch nicht einheitlich verfahren. Person und Persönlichkeit, Selbst und Selbstbewusstsein, Subjekt und Subjektivität sind alles eigenen Artikel, aber Individuum/Individualität sind in einem einzigen Artikel zusammengefasst. Man wird damit rechnen müssen, dass Person und Persönlichkeit ebenso wie die anderen Begriffspaare keineswegs (immer) synonym gebraucht wurden. Handelt man diese Begriffe in einem einzigen Artikel ab, ist deshalb streng darauf zu achten, dass der Leser erfährt, ob diese Begriffe unterschiedlich verwendet wurden oder nicht und worin der Bedeutungsunterschied bestand.

Eine Pointe des geplanten Projektes ist es, dass hier Wörter untersucht werden, die bedeutungsverwandt sind. Das gilt nicht nur für Person und Persönlichkeit, sondern ebenso für die Begriffe Ich und Selbst. Deshalb dürfen wir hier von einem Wortfeld sprechen, im Sinne z.B. der Wortfeldforschung von Jost Trier. Die begriffsgeschichtliche Praxis hat oft bestätigt, dass gerade die Beobachtung eines ganzen Feldes fruchtbar, ja der Sache einzig angemessen ist. Denn in solchem Feld lässt sich beobachten, wie sich die verschiedenen Wörter zueinander verhalten, wie sie im Verlauf der Geschichte auftauchen und abdanken, wie sie anderen ihre Stelle überlassen und selbst eine neue Funktion ausüben. Z.B. wurde der alte Begriff physica zum modernen Begriff der Physik verengt, und seine alte weite Bedeutung übernahmen die Begriffe philosophia naturalis und Naturwissenschaft. Ein anderes Beispiel: Der alte Begriff der Kunst (ars) erhielt am Ende des 18. Jahrhunderts die Bedeutung schöne Kunst, und seine frühere Stelle übernahmen Begriffe wie Kunstfertigkeit, Kultur oder Kompetenz ein, ohne aber mit dem älteren Kunstbegriff synonym zu sein. Daran zeigt sich, dass bestimmte Bedeutungseinheiten sich auch auflösen können ebenso, wie sie sich konstituieren. Während die Begriffsgeschichte, wie wir sie besonders in den Handbüchern finden, fast nur diachron arbeitet, indem sie ein Lemma durch die Geschichte verfolgt, fasst die Feldforschung ein ganze Bündel von Wörtern in den Blick und betrachtet dies auch synchron.

Mein Vorschlag wäre, bei dem neuen Vorhaben diesem synchronen Aspekt Rechnung zu tragen und das geplante Lexikon auch ganz anders zu gliedern als die schon vorliegenden, nämlich zuerst nach den historischen Phasen, die untersucht werden sollen. Jeder Phase könnten dann einzelne Artikel gelten, je nach dem, welche Begriffe wichtig und typisch sind. Der Vorteil: Schon in der Gliederung, im Inhaltsverzeichnis, zeigte sich, ob das gesamte Begriffsfeld sich geändert hat oder erhalten blieb. Denn denkbar wäre doch, das der Sinnbezirk der Persönlichkeit am Beginn des 19. Jahrhunderts noch durch ganz andere Begriffe repräsentiert war als am Ende des 20. Jahrhunderts. Sodann könnte gezeigt werden, welche Begriffe des Feldes jeweils dominant waren und welche im Hintergrund standen. Ich halte für möglich, dass sich erst während des Forschens herausstellt, ob weitere Begriffe aufzunehmen sinnvoll ist, z.B. den Begriff des Menschen.

4. Ein weiterer strittiger Punkt der Begriffsgeschichtsschreibung ist stets die Frage nach dem Textkorpus. Bei der Edition des Historischen Wörterbuchs der Philosophie wurde z.B. oft diskutiert, inwieweit die Begriffe des außereuropäischen Denkens einbezogen werden sollten. Koselleck hat sich die harte Kritik von Kollegen aus der Sozialgeschichte anhören müssen, in seinem Lexikon seien fast nur klassische Texte, aber nicht die Alltagssprache und kaum die politische Rhetorik berücksichtigt. Das vorliegende Projekt möchte, wenn ich recht verstehe, die russische Philosophie ins Zentrum stellen und dann auch andere Sprachformen untersuchen, um so die Ausstrahlung der philosophischen Sprache in andere Bereiche, auch in die Alltagssprache zeigen zu können. Ich glaube, dass dies realisierbar ist, rate aber zur Bescheidenheit. Was einige Sozialhistoriker von Koselleck verlangten, die genauer Erforschung des allgemeinen Sprachgebrauchs aller Gesellschaftsschichten, war praktisch nicht einlösbar. Selbst wenn alle Druckwerke der Neuzeit auf EDV-Systemen gespeichert wären, hätte die Auswertung dieses gewaltigen Materials die Herausgabe des Handbuches nicht nur verzögert, sondern verhindert. Deshalb empfehle ich, gleich im Vorwort des neuen Lexikons zu erklären, dass die Berücksichtigung aller russischer Druckwerke nicht möglich war und deshalb als Repräsentanten des allgemeinen Sprachgebrauchs erstens die Lexika und Wörterbücher und zweitens einige ausgewählte Beispiele aus Zeitungen und politischer Rede herangezogen wurden - mit der ganzen eingestandenen Unsicherheit, ob die Beispiele wirklich als repräsentativ gelten können. Die Konzentration auf die russische Philosophie ist also auch aus pragmatischen Gründen sinnvoll und wichtig, weil eben gar nicht alle Quellen ausgewertet werden können.

Dafür aber sollte man überlegen, ob tatsächlich die Epoche des Sowjetsystems ganz ausgeklammert bleiben soll. Vielleicht gewinnt ja gerade im Kontrast zu ihr die vorangehende und die spätere Philosophie ihr Profil. Es wird vermutlich ohnehin gelegentlich schwer sein zu entscheiden, ob ein Text zur russischen Philosophie gehört oder nicht. (Man denke an die Schriften von Bakunin).

5. Begriffsgeschichtliche Vorhaben werden nicht um ihrer selbst willen in Angriff genommen, nicht, damit es Wissenschaft gibt (wie sich das zuweilen manche Linguisten vorstellen), sondern weil es Probleme zu lösen gilt, und sei es die Aufgabe, über die Herkunft vieldeutiger Begriffe zu informieren und dadurch mehr Klarheit in ihre Vieldeutigkeit zu bringen.

Wie schon angedeutet, hat das vorliegende Projekt eine bestimmte Zielrichtung, nämlich die Frage, ob und wie die individuelle Identität des Menschen in der neueren russischen Geistesgeschichte gedacht wurde. Solche Ziele der Begriffsgeschichte entscheiden jeweils über Interpretation und Darstellungsweise. Dennoch haben sich Formen, das empirisch erhobenen Material zu bearbeiten, herausgebildet, die für alle historische Semantik hilfreich oder sogar notwendig sind.

a) Wortstatistiken. Der Computer ermöglicht heute, die Worthäufigkeit bestimmter Lemmata in gespeicherten Texten exakt zu vermessen, und besonders die Sozialhistoriker verwenden zunehmend Techniken der Computerlinguistik, weil sich aus der Häufigkeit des Gebrauchs sich Vermutungen über die Wirksamkeit der Begriffe in sozialen Situationen ergeben. Aber sogar in einigen Artikeln des Historischen Wörterbuchs der Philosophie wurden statistische Ergebnisse aufgenommen. Auch für das vorliegenden Projekt könnte ein solches Verfahren nützlich sein. Wäre es doch z.B. interessant zu erfahren, welche Begriffe aus dem Bereich der Personalität bei einem Autor oder in einer Epoche dominierten, wie sich die quantitative Verteilung änderte usw. Aber die computergestützte Erstellung von Wortstatistiken setzt eben erstens die Speicherung des jeweiligen Textkorpus voraus, und zweitens kann es keine historische Semantik bei der quantitativen Erfassung des Wortvorkommens belassen, weil dadurch gerade die Ebene der Semantik ausgeklammert bliebe. Deshalb bedarf die Begriffsgeschichte immer auch der

b) Textinterpretation. M. E. ist es unumgänglich, die Verwendungsweisen von Begriffen in bestimmten Texten genau zu untersuchen und zu beschreiben. Man wird finden, dass schon in einer einzigen Publikation ein Wort mit unterschiedlichen Bedeutungsnuancen auftauchen kann. Die linguistische Frage, ob es sich dann jeweils um einen neuen Begriff handelt (wie Quentin Skinner meint), kann man in der Forschungspraxis beiseite lassen. Aber jeder Begriffshistoriker muss entscheiden, ob er alle jene Nuancen, die er feststellt, auch aufschreibt und vermerkt. Das hängt vom Genre ab. In einer Monographie zu einem Autor lassen sich mehr Bedeutungsdifferenzen mitteilen als in einem Handbuchartikel zu einer Epoche. Nützlich ist aber stets das beispielhafte Zitat. Je mehr dies den Gebrauch selbst zum Ausdruck bringt, desto weniger muss der Interpret in seiner Sprache hinzufügen.

Da alle Handbücher aber Orientierung in einem großen historischen Feld geben wollen, werden sie es aber auch nie bei der Sammlung von Belegen und Interpretationen bestimmter Textstellen belassen können. Hinzutreten muß der Aufweis von

c) Typen des Wortgebrauchs. Auch wenn ein vieldeutiges Wort jeweils einen sehr schillernden Charakter aufweisen kann, wird der Begriffshistoriker stets das für einen Autor oder seine Epoche Typische des Gebrauchs herausarbeiten müssen – sonst vermittelt seine Darstellung das Bild einer Vielheit ohne Einheit, einer desorientierenden Informationsflut. Es wäre interessant, die Artikel der vorliegenden begriffsgeschichtlichen Handbücher daraufhin zu prüfen, inwiefern die Autoren aus Sorge, die historischen Differenzen auszulöschen, nur die Verschiedenheit des Wortgebrauchs dokumentierten, oder – umgekehrt – um des orientierenden Überblicks willen Bedeutungseinheiten konstruierten, in denen fraglich ist, ob sie tatsächlich im historischen Material fundiert sind. Wie jeder Historiker, so steht auch der historische Semantiker zwischen der Skylla, den Wald vor lauter Bäumen aus den Augen zu verlieren, und der Charybdis, gar keine Bäume mehr zu sehen und zu zeigen. Mit Recht soll deshalb bei der Erforschung der russischen Geistesgeschichte einerseits divergentes Material gesammelt und anderseits sollen aus ihm typische Verwendungsweisen, Bedeutungstypen erhoben werden. Ohne solche interpretatorische Arbeit lassen sich keine Umbrüche im historischen Sprachwandel zeigen und keine Epochen oder Phasen des Gebrauchs vergleichen. Jeder Historiker muss die Komplexität der Geschichte vereinfachen, muss weglassen und auswählen, so auch der Begriffshistoriker, und es ist Sache seines Talents, durch Vereinfachung die Geschichte nicht zu verzerren. Wer auf relativ konstante Bedeutungseinheiten ausgerichtet ist, sollte entweder eine Definition aus dem jeweiligen Text als typisch auswählen, oder er sollte stilistisch kenntlich machen, dass die Beschreibung des Typus die Sprache des Interpreten und nicht die der Quellen ist.

6. Viel schwieriger als der Aufweis von typischen Gebrauchsweisen ist die Beziehung eines begriffsgeschichtlich interessanten Textes auf seinen Kontext.

a) Fast jede begriffsgeschichtliche Forschung wird nach den sprachlichen oder literarischen Voraussetzungen fragen um zu klären, woher ein Wort stammt und wie es ggf. verändert wurde. In diesem Punkt wird sich unser Projekt auf die Frage nach den Einfluss der deutschen Philosophie auf die russische konzentrieren, und hier liegt die Interkulturalität des Vorhabens. Dabei werden sich alle Fragen einstellen, die sich auch sonst bei der Suche nach Einflüssen ergeben: Ist es wirklich nachweisbar und sicher, dass dieser oder jener Begriff auf die deutsche Philosophie zurückgeht, oder hat er vielleicht andere Quellen? Hat sich bei der Rezeption die Bedeutung verändert oder nicht? Gab es im russischen Denken schon ein Wort, das eine ähnliche Funktion hatte, oder kommt etwas völlig Neues in die Sprache? Hier muß sicherlich besonders der Tatsache Rechnung getragen werden, dass sowohl die russische als auch die deutsche Kultur durch das Christentum geprägt sind, nur von verschiedenen Ausrichtungen. Und deshalb wird man hinsichtlich der Auffassung der personalen Identität des Menschen zumindest Ähnlichkeiten erwarten. - Sind solche Fragen nach dem Verhältnis zwischen verschiedenen Texten mit philologischem und historischem Instrumentarium zu klären, so andere Kontextfragen nicht.

b) Das vorliegende Projekt möchte – an Tendenzen der historische Semantik in der Sozialgeschichte anknüpfend – auch den außersprachlichen Kontext, die Gesellschaft und die Kultur, wir können sagen: das Verhalten und Handeln der Menschen, berücksichtigen und so die philosophische Begriffsgeschichte mit der sozialhistorischen Begriffsgeschichte verbinden. Kein Zweifel: Für die Geschichtswissenschaft ist diese Beziehung der Sprache zur politisch–sozialen Wirklichkeit von entscheidender Bedeutung. Gerade weil die Sprache die Wirklichkeit mitgestaltet, weil sie das Handeln und Verhalten nicht nur ausdrückt, sondern motiviert und formt, sodass Begriffe eben auch historische Kräfte oder „Faktoren“ sind, wird ja hier die Sprache überhaupt wissenschaftlich erforscht. Deshalb legt sich natürlich auch für die russische Geschichte die Frage nahe, inwiefern das Begriffsfeld der Personalität die politische und soziale Wirklichkeit mitprägte, und man kann die Berechtigung dieser Frage gar nicht von der Hand weisen.

Allerdings dürfte ihre Beantwortung nicht leicht sein, da es m.W. dafür kein methodisches Vorgehen gibt, keine Regeln ausgebildet wurden. Deshalb hat der Interpret hier einen Spielraum, den er sinnvoll nutzen muss. Er kann es bei dem Aufweis belassen, dass sich parallel mit einer bestimmten Sprache auch bestimmte Formen des Handelns und Verhaltens durchsetzten oder einhergingen. Er kann die Lücke etwas zu schließen suchen, indem er die Begriffe in der Sprache derjenigen aufweist, die den größten Einfluß auf das Handeln in der Gesellschaft haben: Geistliche, Juristen, Politiker, auch Journalisten. Aber auch hier wird dann ein Hiatus, ein Sprung bleiben. Denn zwar kann man politische Reden selbst als Handlungen begreifen – z.B. den Aufruf des Philosophen Henrik Steffens an die Breslauer Studenten, sich an der Erhebung gegen Napoleon zu beteiligen –, aber inwiefern die Sprache Wirkungen zeitigte oder das Handeln ganz andere Ursachen hatte: das ist nur in jedem Einzellfall approximativ aufzuklären. Stets aber muß der Begriffshistoriker, der auf das Verhältnis von Sprache und Gesellschaft abhebt, noch weitere Quellen oder Literatur hinzuziehen, die ihn über die politisch-sozialen Ereignisse und Situationen verläßlich informieren.

Letzte Aenderung: 12:07 7.06.2005

 
 
 

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