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III. Philosophischer Diskurs.

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Wladimir Solowjew. Vorlesungen über das Gottmenschentum

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Zweite Vorlesung

Das höchste Prinzip, das Universalprinzip des Katholizismus, besteht in der Forderung, daß alles Individuelle und Einmalige, daß die menschliche Persönlichkeit sich ihm unterordnen müsse. Aber indem es zur äußeren Macht wird, hört es auf, das höchste Prinzip zu sein und verliert das Recht auf Herrschaft über die menschliche Persönlichkeit (denn diese besitzt innere Kraft). Seine tatsächliche Herrschaft aber ist dann nichts anderes als Unterdrückung und Zwang: sie provoziert den notwendigen und berechtigten Protest des Individuums, worin eben die eigentliche Bedeutung und Rechtfertigung des Protestantismus liegt.

Mit dem Protestantismus beginnt in der westlichen Zivilisa­tion die schrittweise Befreiung der menschlichen Persönlichkeit, des menschlichen Ich, aus jener historischen, auf der Tradition beruhenden Bindung, die die Menschen im Mittelalter vereinte, gleichzeitig aber auch versklavte. Der große Sinn des histori­schen Prozesses, der mit der religiösen Reformation begonnen hat, liegt darin, daß er die menschliche Persönlichkeit auf sich gestellt, sich selbst überantwortet hat, so daß sie sich bewußt und in Freiheit dem göttlichen Prinzip zuwenden, mit ihm eine vollkommen bewußte und freie Bindung eingehen konnte.

Eine solche Bindung wäre aber nicht möglich, wenn das gött­liche Prinzip für den Menschen ein rein äußeres wäre, wenn es nicht in der menschlichen Persönlichkeit selbst wurzelte; dann könnte der Mensch gegenüber dem göttlichen Prinzip nur in schicksalhaft-unfreier Subordination verharren. Eine freie innere Bindung aber zwischen dem absoluten göttlichen Prinzip und der menschlichen Persönlichkeit ist nur deshalb möglich, weil sie selbst absolute Bedeutung hat. Die menschliche Persönlichkeit kann sich nur deshalb frei und von innen her mit dem göttlichen Prinzip vereinigen, weil sie in gewissem Sinne selbst göttlich, oder genauer - der Gottheit teilhaftig ist.

Die menschliche Persönlichkeit — und zwar nicht allgemein, nicht als abstrakter Begriff, sondern die wirkliche, lebendige Person, jeder einzelne Mensch — hat unbedingte, göttliche Bedeutung. — In dieser These gehen Christentum und moderne weltliche Zivilisation einig.

Worin besteht aber diese Unabhängigkeit, diese Göttlichkeit der menschlichen Persönlichkeit?

Unbedingtheit - wie auch die anderen ähnlichen Begriffe: Unendlichkeit, Absolutheit - hat zwei Bedeutungen: eine nega­tive und eine positive.

Negative Unbedingtheit, die zweifellos zur menschlichen Persönlichkeit dazugehört, besteht in der Fähigkeit, jeden end­lichen, begrenzten Inhalt zu überschreiten, in der Fähigkeit, bei ihm nicht halt zu machen, sich nicht zufrieden zu geben, sondern mehr zu fordern, besteht in der Fähigkeit, wie der Dichter sagt, »Glückseligkeit zu suchen, die weder Namen kennt noch Maß«[1].

Indem sich der Mensch mit keinem endlichen, bedingten In­halt zufrieden gibt, erklärt er sich in der Tat für frei von jeder inneren Begrenztheit, erklärt er seine negative Unbedingtheit, die ihm unendliche Entwicklung verbürgt. Doch das Ungenügen an jedem endlichen Inhalt, an begrenzter Teilwirklichkeit, ist eben­deshalb zugleich die Forderung nach umfassender Wirklichkeit, nach der Fülle des Inhalts. Im Besitz von ganzheitlicher Wirk­lichkeit und Lebensfülle aber besteht die positive Unbedingtheit.

Ohne diese oder zumindest ohne deren Möglichkeit hätte die negative Unbedingtheit gar keinen Sinn, besser gesagt — nur den Sinn eines ausweglosen inneren Widerspruchs. Und in sol­chem Widerspruch befindet sich das moderne Bewußtsein.

Die westliche Zivilisation befreite das menschliche Bewußt­sein von allen äußeren Beschränkungen, akzeptierte die nega­tive Unbedingtheit der menschlichen Persönlichkeit, verkündete die unbedingten Rechte des Menschen. Da diese Zivilisation aber zugleich jedes im positiven Sinne unbedingte, in Wirk­lichkeit und schon von Natur aus über ganzheitliche Seins­fülle verfügende Prinzip abgelehnt, da sie Leben und Bewußt­sein des Menschen auf den Kreis des Bedingten und Vergäng­lichen eingeschränkt hatte, so behauptete diese Zivilisation also gleichzeitig sowohl das unendliche Streben des Menschen, wie auch die Unmöglichkeit, es zu befriedigen.

Der moderne Mensch lebt in dem Bewußtsein, daß er inner­lich frei sei, über jedem äußeren, von ihm unabhängigen Prinzip stehe; er sieht sich als Mittelpunkt des Weltalls, während er in Wirklichkeit doch nur ein unendlich kleiner und verschwin­dender Punkt auf der Erdoberfläche ist.

Das moderne Bewußtsein erkennt der menschlichen Persön­lichkeit göttliche Rechte zu, gibt ihr aber weder göttliche Kräfte noch göttlichen Inhalt, denn der moderne Mensch läßt in Leben und Wissen nur die bedingte, beschränkte Wirklichkeit gelten, die Wirklichkeit von Einzelfakten und -erscheinungen, und so gesehen ist der Mensch selbst eben auch nur ein solches Einzel­faktum.

Der Mensch ist also einerseits ein Wesen von absoluter Be­deutung, mit absoluten Rechten und Ansprüchen, und doch ist der gleiche Mensch nur eine beschränkte und vorübergehende Er­scheinung, eine Tatsache wie jede andere, allseits von Fakten eingegrenzt und abhängig von ihnen — und so steht es nicht nur mit dem einzelnen Menschen, sondern mit der ganzen Menschheit. Vom atheistischen Standpunkt aus ist es ja nicht nur der einzelne Mensch, der auftaucht und wieder verschwindet wie alle übrigen Fakten und Naturerscheinungen, sondern die

ganze Menschheit: aufgrund der äußeren Naturbedingungen ist sie auf dem Erdball erschienen und kann, wenn sich diese Natur­bedingungen verändern, spurlos von diesem Erdball - oder zu­sammen mit ihm - verschwinden. Der Mensch ist sich selbst alles, seine ganze Existenz indessen ist relativ und ein ständiges Problem. Wäre dieser Widerspruch rein theoretisch, beträfe er nur irgendeine abstrakte Frage oder einen abstrakten Gegen­stand, dann wäre er nicht von so schicksalhafter Tragik, dann könnte man ihn vergessen, und der Mensch könnte sich von ihm wegbegeben hinein ins Leben, in seine Lebensinteressen. Wenn der Widerspruch aber direkt im Zentrum des menschlichen Be­wußtseins steckt, wenn er das Ich des Menschen direkt betrifft und sich auf alle seine Lebenskräfte erstreckt, dann gibt es nichts, wohin man sich vor ihm retten könnte. Für eines der beiden Glieder in diesem Dilemma muß man sich entscheiden: entweder besitzt der Mensch wirklich jene absolute Bedeutung, jene absoluten Rechte, die er sich selbst in seinem inneren sub­jektiven Bewußtsein gibt — dann muß er auch die Möglichkeit haben, diese Bedeutung und diese Rechte zu verwirklichen. Oder aber der Mensch ist nur ein Faktum, nur bedingte und beschränkte Erscheinung, die heute ist und morgen vielleicht schon nicht mehr, nach einigen Jahrzehnten aber ganz sicher nicht mehr sein wird, dann mag er ruhig zum bloßen Faktum werden: denn eine Tatsache an sich ist weder falsch noch wahr, weder gut noch böse - sie ist nur naturgegeben, nur zwangs­läufig. Dann mag es der Mensch ruhig sein lassen, nach dem Guten und nach der Wahrheit zu streben, denn das alles sind nur bedingte Begriffe, im Grunde - leere Worte. Wenn der Mensch bloßes Faktum ist, wenn er unausweichlich vom Mecha­nismus der äußeren Wirklichkeit eingegrenzt ist, dann mag er es ruhig unterlassen, irgend etwas Großes in dieser naturgegebe­nen Wirklichkeit zu suchen, mag er essen, trinken und fröhlich sein [cf. Pred. Salom. 8, 15], steht ihm aber der Sinn nicht da­nach, so kann er ja seiner faktischen Existenz ein faktisches Ende setzen.



* Solowjew W. Kritik der abstrakten Prinzipien. Vorlesungen über das Gottmenschentum Deutsche Gesamtausgabe der Werke von Wladimir Solowjew.  Herausgegeben von Wladimir Szylkarski, Wilhelm Lettenbauer, Ludolf Müller unter Mitwirkung von Nikolai Lossky, Wsewolod Setschkareff, Johannes Strauch und Erwin Wedel. 1. Bd. München: Erich Wewel Verlag, MCMLXXVIII. S. 556-559.

[1] Aus dem Gedicht von Fet »O, ne zovi! Strastej tvoich tak zvonok ...«. Anm. d. Herausgebers.

Letzte Aenderung: 10:33 22.10.2005

 
 
 

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