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III. Philosophischer Diskurs.

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Wladimir Solowjew Die Rechtfertigung des Guten. Eine Moralphilosophie

Dritter Teil

Das Gute im Laufe der Menschenheitsgeschichte.

X. Die Persönlichkeit und die Menschliche Gesellschaft*

I

Wir wissen, daß das Gute in seinem endgültigen, vollen, auch den Begriff des Glückes oder der Befriedigung umfassenden Sinne als wirkliche moralische Ordnung bezeichnet wird, die eine absolut pflicht­gemäße und absolut wünschenswerte Beziehung jedes einzelnen zu allen und aller zu jedem zum Ausdrucke bringt. Dieser Zustand ist das Reich Gottes; und vom moralischen Gesichtspunkte aus ist es ganz klar, daß nur die Verwirklichung des Reiches Gottes das Endziel alles Lebens und Wirkens sein kann, als das höchste Gut und Heil und als die höchste Seligkeit. Ebenso klar ergibt sich aus einem scharfen und lebensvollen Nachdenken über diesen Gegenstand, daß eine wirkliche moralische Ordnung oder das Reich Gottes eine durchaus allgemeine und zugleich auch eine durchaus persönliche Angelegenheit ist, weil jeder das Reich Gottes für sich und für alle erlangen will und weil er es nur gemeinsam mit allen erlangen kann. Im eigentlichen Sinne dür­fen daher Persönlichkeit und Gesellschaft nicht als Gegensätze be­trachtet, und es darf nicht gefragt werden, wer von beiden das Ziel und wer von beiden nur das Mittel dazu sei.

Eine solche Frage würde das reale Dasein der einzelnen Persönlich­keit als eines abgesonderten und abgeschlossenen Kreises für sich vor­aussetzen; in Wirklichkeit ist aber jede einzelne Persönlichkeit nur der Mittelpunkt einer unendlichen Anzahl von Wechselbeziehungen mit anderem und anderen, und wenn sie von diesen Beziehungen los­gelöst würde, so wäre sie allen wirklichen Lebensinhaltes beraubt, und die Persönlichkeit stellte nur mehr eine nichtige Daseinsmöglichkeit dar. Wer sich den persönlichen Mittelpunkt seines Daseins als tat­sächlich getrennt von der eigenen und allgemeinen Lebenssphäre, die ihn mit anderen Lebenszentren verbindet, vorstellen wollte, der gäbe sich nichts anderem als einer krankhaften Illusion seines Selbstbe­wußtseins hin.

Wenn vor einem Hahne ein Kreidestrich gezogen wird, so sieht der Hahn ja bekanntlich diesen Strich als irgendein verhängnisvolles Hin­dernis an, das zu überwinden ihm vollständig unmöglich ist; er ist augenscheinlich nicht imstande zu begreifen, daß die niederdrückende und für ihn verhängnisvolle Bedeutung des Kreidestriches nur davon herrührt, daß er ganz und gar von der für ihn ungewöhnlichen und unerwarteten Vorstellung befangen und daher in bezug auf sie unfrei ist. Das ist für einen Hahn ein ganz natürlicher, für einen vernünftig denkenden Menschen jedoch weniger natürlicher Irrtum. Dennoch be­greift der Mensch nur allzu oft nicht, daß die gegebenen Grenzen seiner Subjektivität nur dadurch so unüberwindlich und undurch­dringlich scheinen, weil er seine ganze Aufmerksamkeit ausschließlich auf diese Begrenztheit richtet, und daß jenes verhängnisvolle Sonder­sem seines „Ich" nur durch die verhängnisvollen Vorstellungen hervor­gerufen wird, die er sich davon macht. Auch er ist das Opfer einer Autosuggestion, die allerdings objektive Stützpunkte aufweisen kann; diese Stützpunkte sind aber nur bedingte und ebenso leicht zu ver­nichten, wie der bewußte Kreidestrich.

Diese Selbsttäuschung, kraft welcher der einzelne Mensch sich in seiner Abgetrenntheit von allem für eine Realität hält und dieses scheinbare Sondersein als wahre Grundlage, ja sogar als den einzig möglichen Ausgangspunkt aller seiner Beziehungen voraussetzt, diese Selbsttäuschung eines abstrakten Subjektivismus richtet Verhee­rungen an nicht nur auf dem Gebiete der Metaphysik (die von diesem Gesichtspunkte aus überhaupt überflüssig wird), sondern auch in der Sphäre des moralischen und politischen Lebens. Wie viele verworrene Theorien, unvereinbare Widersprüche und verhängnisvolle Fragen entstehen nicht daraus ? Und diese ganze Unvereinbarkeit, dieses ganze Verhängnis, sie würden von selbst verschwinden, wenn wir, ohne uns durch große Worte abschrecken zu lassen, die einfache Tatsache im Auge behalten wollten, daß diese Theorien und diese verhängnisvollen Fragen einzig und allein vom Standpunkte des hypnotisierten Hahnes aus entstehen konnten.

2

Die menschliche Persönlichkeit, und folglich jeder einzelne Mensch ist die Möglichkeit für dieVerwirklichung einer unbegrenzten Realität oder die besondere Form eines unendlichen Inhaltes.

Das Verstandesleben des Menschen enthält unendliche Möglichkei­ten einer immer größeren Erkenntnis über den Sinn aller Dinge, und ebenso enthält sein Wille unendliche Möglichkeiten, um diesen all-eini­gen Sinn immer vollkommener in der gegebenen Lebenssphäre zu ver­wirklichen. Die menschliche Persönlichkeit ist unendlich, das ist ein Axiom der Moralphilosophie. Da kommt aber der abstrakte Subjek­tivismus und zieht vor den Augen des unvorsichtigen Philosophen jenen bewußten Kreidestrich, und das fruchtbare Axiom verwandelt sich in eine Torheit, aus der es kein Entrinnen gibt.

Die menschliche Persönlichkeit unterscheidet sich als unendliche Möglichkeit von allen realen Bedingungen und wirklichen Resultaten, ihrer durch die Gesellschaft zum Ausdruck gebrachten Verwirklichung, ja sie unterscheidet sich nicht nur von ihnen, sondern sie stellt sogar einen Gegensatz zu ihnen dar. Es entsteht der unlösliche Gegensatz zwi­schen der Persönlichkeit und der Gesellschaft und die verhängnisvolle Frage: Welches von diesen beiden Prinzipien muß geopfert werden ?

Einerseits behaupten die von der Idee des Individualismus Hypno­tisierten, daß die einzelne Persönlichkeit, die alle ihre Beziehungen aus sich selbst heraus bestimmt, auch in sich selbst ihr Genüge fände, und in den sozialen Verbänden und der Ordnung der Allgemeinheit sehen sie nur äußere Grenzen und eine willkürliche Beschränkung, die auf alle Fälle beseitigt werden müsse. Dagegen treten die von der Idee des Kollektivismus Hypnotisierten auf; sie sehen im Leben der Mensch­heit nur soziale Massen, und betrachten die Persönlichkeit als ein nich­tiges und vergängliches Element der menschlichen Gesellschaft, das gar keine eigenen Rechte besitzt, und mit dem im Namen des soge­nannten allgemeinen Interesses nicht gerade gerechnet zu werden braucht. Was ist das aber für eine Gesellschaft, die aus rechtlosen, un­persönlichen Geschöpfen, aus moralischen Nullen besteht ? Wird das auf alle Fälle eine menschliche Gesellschaft sein ? Worin wird dann die Würde dieser Gesellschaft bestehen, und woraus wird sie ihre Würde und ihren inneren Daseinswert schöpfen, und durch welche Kraft wird sie sich erhalten ? Ist es nicht klar, daß das eine traurige Chimäre ist, die ebensowenig verwirklicht werden kann, als sie wünschenswert ist ? und ist das entgegengesetzte Ideal einer in sich selbstzufriedenen Persönlichkeit nicht eine ebensolche Chimäre?

Wenn der wirklichen menschlichen Persönlichkeit alles das genom­men wird, was auf die eine oder die andere Weise durch ihren Zusam­menhang mit sozialen oder allgemein menschlichen Zielen bedingt ist, so entsteht ein tierisches Einzelwesen, dem einfach nur die Möglich­keit ein Mensch zu sein oder die leere menschliche Form eignet, also etwas, was es in Wirklichkeit gar nicht gibt.

Auch diejenigen, die sich in die Tiefen der Hölle begeben oder zu den Himmeln erheben konnten, wie ζ. 14;. Dante und Swedenborg, auch sie sahen dort nicht eine einzelne Persönlichkeit, sondern nur Gesell­schaftsgruppen und Kreise beisammen.

Das Gemeinwesen ist keine nebenhergehende Bedingung des persön­lichen Lebens, sondern ist eingeschlossen in die Bestimmung der Per­sönlichkeit selbst, die ihrem Wesen nach eine vernunftgemäß erken­nende und moralisch handelnde Kraft ist. Das eine sowohl als das andere ist aber nur in einer gesellschaftlichen Daseinsform möglich.

Die Vernunfterkenntnis ist in bezug auf das Formale durch allge­meine Begriffe bedingt, die den einheitlichen Sinn des Ganzen in einer unfaßbaren Vielheit der Erscheinungen zum Ausdruck bringen. Die wirkliche und objektive Einheit der Begriffe (ihr allgemeiner Sinn) kommt aber durch die Vermittlung der Sprache zum Ausdruck, und ohne diese würde jede vernünftige Tätigkeit zurückgehalten und ihrer Verwirklichung beraubt, naturgemäß bald dahinschwinden; in der Folge aber würde die Fähigkeit des Verständnisses selbst nicht mehr vorhanden sein oder in einen rein latenten Zustand übergehen. Die Sprache, diese Realität des Vernunftlebens, sie hätte nicht von der einzelnen Persönlichkeit geschaffen werden können, und daher hätte die einzelne Persönlichkeit auch niemals ein wortbegabtes Wesen, ein Mensch sein können.

In bezug auf das Materielle ist die Erkenntnis der Wahrheit auf einer ererbten, allgemeinen und immer reicher werdenden Erfahrung begründet. Die Erfahrung des einzelnen, absolut isolierten Wesens je­doch, selbst wenn ein solches da sein könnte, wäre augenscheinlich vollkommen ungenügend für die Wahrheitserkenntnis.

Was die moralische Bestimmung der Persönlichkeit betrifft, so ist es nur allzu offenbar, daß die Verwirklichung dieser Idee oder die wirk­liche Entwicklung der menschlichen Moral — wenn auch die Idee des Guten selbst oder der moralischen Wertung nicht nur eine Folge sozi­aler Beziehungen ist, wie viele gerne glauben — nur für eine Persön­lichkeit möglich ist, die in einem Gemeinwesen lebt und in Wechsel­beziehung zu diesem steht. Und in dieser wichtigen Beziehung ist die menschliche Gesellschaft nichts anderes als der objektiv sich verwirk­lichende Inhalt der Persönlichkeit.

An Stelle des unlöslichen Widerspruches zweier einander ausschlie­ßender Prinzipien, zweier abstrakter ,,Ismen", finden wir in Wirklich­keit zwei sich aufeinander beziehende und logisch und historisch ein­ander voraussetzende und fordernde Ausdrucksformen. Ihrer eigent­lichen Bedeutung nach ist die Gesellschaft nicht die äußere Begren-

zung der Persönlichkeit, sondern ihre innere Ergänzung, und in bezug auf die Vielheit der Einzelwesen ist die Gesellschaft nicht ihre arith­metische Summe oder ihr mechanisches Aggregat, sondern die unteil­bare Ganzheit des gemeinsamen Lebens, die einesteils schon in der Vergangenheit ihre Verwirklichung gefunden hat und sich durch fort­dauernde Überlieferung in der menschlichen Gesellschaft erhält, die zum anderen Teile sich in der Gegenwart durch Dienstleistungen der Gemeinschaft verwirklicht und die endlich in der schönsten Erkennt­nis des gemeinschaftlichen Ideals ihre vollkommene Verwirklichung in der Zukunft voraus verkündet.

Diesen drei grundlegenden und dauernden Momenten des persön­lichen Gemeinschaftslebens, dem religiösen, politischen und prophe­tischen, entsprechen im ganzen historischen Entwicklungsgange drei folgerichtig hervortretende, konkrete Hauptstufen des menschlichen Bewußtseins und der Daseinsordnung, nämlich erstens das Stammes-leben, das der Vergangenheit angehört, wenn es sich auch noch in der veränderten Form des Familienlebens erhalten hat, zweitens die natio­nale, staatliche Ordnung, die in der Gegenwart vorherrscht, und end­lich als drittes eine die ganze Menschheit umfassende Gemeinschaft — als das Ideal der Zukunft.

Auf allen diesen Stufen ist die menschliche Gesellschaft ihrem wesent­lichen Inhalte nach die moralische Ergänzung oder Verwirklichung der Persönlichkeit im gegebenen Lebenskreise. Der Umfang dieses Kreises ist nur nicht immer der gleiche, denn er erhält auf der ersten Stufe für jeden einzelnen durch seinen Stamm, auf der zweiten durch das Vaterland seine Grenzen, und erst auf der dritten Stufe strebt die menschliche Persönlichkeit, nachdem sie das klare Bewußtsein ihrer inneren Unbegrenztheit erlangt hat, danach, diese Unbegrenztheit auf entsprechende Weise in einer vollkommenen menschlichen Gesellschaft zu verwirklichen und zugleich jede Beschränkung nicht nur in bezug auf den Inhalt, sondern auch auf den Umfang aller Wechselwirkung des Lebens zu beseitigen.

3

Jeder einzelne Mensch verfügt als Persönlichkeit über die Möglich­keit, vollkommen oder positiv unbegrenzt zu sein, denn er besitzt die Fähigkeit, alles mit seiner Vernunft zu begreifen und alles mit dem Herzen zu umfassen oder eine lebendige Einheit mit allem einzugehen. Diese zweifache Unendlichkeit in der Kraft des Vorstellungsver-

mögens und in der Kraft des Strebens und Handelns, die in der Bibel

— nach Auslegung der Kirchenväter — das Bild und Gleichnis Gottes genannt wird, ist das unbedingte Eigentum jedes Menschen, und darin besteht eigentlich die absolute Bedeutung, die Würde und der Wert der menschlichen Persönlichkeit und die Grundlage ihrer unveräußer­lichen Rechte.[1]

Es ist einleuchtend, daß die Verwirklichung dieser Unendlichkeit oder die Realität dieser Vollkommenheit durch die Gemeinsamkeit aller bedingt ist und daß sie nicht das persönliche Gut eines jeden als Einzelwesen sein kann, sondern sie wird durch die Wechselwirkung des einzelnen mit allen erworben. Das heißt mit anderen Worten, daß der Mensch als Einzelwesen, wenn er in seinem Sondersein und in sei­ner Beschränkung beharrt, sich dadurch der realen Fülle des Ganzen beraubt, d. h. er beraubt sich der Vollkommenheit und der Unbe­grenztheit. Seine Abgetrenntheit und sein Sondersein auf eine folge­richtige Weise zu behaupten, wäre für den Menschen sogar physisch unmöglich. Alles im Gemeinschaftsleben wirkt unbedingt auf die eine oder andere Weise auf den einzelnen Menschen, wird von ihm sich zu eigen gemacht und erreicht nur in ihm und durch ihn seine endgültige Realität oder Vollendung. Dieselbe Tatsache aber von der anderen Seite betrachtet ergibt, daß der ganze reale Inhalt des persönlichen Lebens aus dem Gemeinschaftsleben fließt und auf die eine oder andere Weise durch seinen gegebenen Zustand bedingt ist. In diesem Sinne kann gesagt werden, daß die menschliche Gesellschaft die Ergänzung oder Erweiterung der Persönlichkeit, die Persönlichkeit aber der zusam­mengedrängte oder konzentrierte Inhalt der Gesellschaft sei.

Die Weltenaufgabe besteht nicht in dem Schaffen einer Solidarität zwischen dem einzelnen und allen — denn diese ist der Natur der Dinge nach schon vorhanden — sondern in dem vollen Bewußtsein dieser Solidarität und der geistigen Aneignung derselben durch alle und jeden in ihrer Umwandlung aus einer nur metaphysischen und physischen

in eine moralisch-metaphysische und moralisch-physische Solidarität. Das Leben des Menschen ist sowohl im Geistigen als im Physischen schon an und für sich eine unwillkürliche Anteilnahme an der fort­schreitenden Entwicklung der Menschheit und des Weltenganzen. Die Würde dieses Lebens und der Sinn des ganzen Weltenbaues for­dern jetzt nur, daß diese unwillkürliche Anteilnahme eines jeden in allem eine gewollte, eine immer mehr bewußte und freie, d.h. eine wirk­lich persönliche werde, damit jeder immer mehr das gemeinsame Werk als sein eigenes erkennen und erfüllen lerne. Es ist augenscheinlich, daß nur auf diese Weise die unbegrenzte Bedeutung der Persönlichkeit verwirk­licht oder aus einer gegebenen Möglichkeit zur Realität werden kann. Dieser Übergang jedoch selbst, diese Vergeistigung oder Versitt-lichung der Solidarität, die ihrer Natur nach schon vorhanden ist, sie ist auch ein untrennbarer Teil der gemeinsamen Arbeit. Die Erfüllung dieser höheren Aufgabe hängt als wirklicher Erfolg nicht nur von per­sönlichen Bedingungen ab, sondern wird durchaus auch durch den allgemeinen Gang der Weltgeschichte oder den augenblicklichen Zu­stand der menschlichen Gesellschaft im gegebenen historischen Mo­mente bestimmt, so daß auch die persönliche Vervollkommnung des einzelnen Menschen niemals von der allgemeinen Vervollkommnung, und die persönliche Moral niemals von der allgemeinen getrennt werden können.

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Wahre Moral ist die pflichtgemäße Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Menschen im weitesten Sinne dieses Wortes, die alle Gebiete des Seins, sowohl die höheren als auch die niederen umfaßt, zu denen der Mensch praktisch in Beziehung steht. Die wahre persön­liche Würde jedes Menschen nimmt zweifellos in seinem Verhältnis zur Umwelt Form und Gestalt an.

In dieser Realität eines persönlichen Gemeinschaftslebens verwirk­lichen sich allmählich jene unendlichen Möglichkeiten, die in der menschlichen Natur bei allen und jedem verborgen ruhen. Die histo­rische Erfahrung findet den Menschen schon inmitten eines gewissen Gemeinschaftslebens vor, und in der Folge ist die ganze historische Entwickelung nur eine Erhöhung und Erweiterung dieses zwiefachen persönlich-sozialen Lebens. Die drei Hauptstufen oder Ausgestaltungen dieses Evolutionsprozesses, auf die ich schon hingewiesen habe, die Stufe des Familienlebens, die staatlich-nationale und die universelle Stufe sind natürlich miteinander durch eine große Anzahl von Zwischengliedern verbunden, und abgesehen davon ersetzt die höhere Form niemals die niedere, sondern nimmt sie in ihre Daseinssphäre auf, gestaltet sie um und macht aus einem selbständigen Ganzen einen untergeordneten Teil. So wird die Vereinigung der Geschlechter bei der Entstehung des Staates zu einem untergeordneten, besonderen Elemente dieses letzteren, zur Familie, in der die Blutsbande nicht beseitigt, sondern eher moralisch tiefgründiger gestaltet werden, denn sie verändern nur ihre soziologische und rechtliche Bedeutung und hören auf, die Grundlagen einer unabhängigen Machtvollkommenheit oder einer eigenen Gerichtsbarkeit zu sein.

Beim Übergange von den niederen Formen des Gemeinschaftslebens zu den höheren erscheint die Persönlichkeit, kraft der ihr innewohnen­den, unbegrenzten Potenz des Erkennens und Strebens zum Besseren in ihren auserwählten Repräsentanten als Prinzip der Bewegung und des Fortschrittes, als das dynamische Prinzip der Geschichte. Dagegen stellt die jeweilig gegebene menschliche Gemeinschaft als schon gewor­dene Realität, als die in ihrer Sphäre und auf ihrer Stufe schon abge­schlossene Objektivierung des moralischen Inhaltes, naturgemäß die be­harrende, schützende Seite, das statische Moment der Geschichte dar.

Wenn die einzelne Persönlichkeit, die begabter und entwickelter als die anderen ist, die Gemeinschaft, in der sie lebt, nicht als Verwirk­lichung und Ergänzung ihres Lebens, sondern als äußere Beschrän­kung und als Hindernis ihrer positiven moralischen Bestrebungen empfindet, dann wird sie selbst zum Träger eines höheren sozialen Bewußtseins, das dann in einer neuen, ihm entsprechenden Form und Lebensordnung sich verkörpern will.

Jede menschliche Gemeinschaft ist die objektive Äußerung oder Verkörperung der Moral (pflichtgemäßer Beziehungen) auf einer ge­wissen Stufe der menschlichen Entwicklung. Der moralische Mensch wächst jedoch, kraft seines Strebens zum absoluten Guten, über die gegebene begrenzte Form des in der Gemeinschaft verkörperten mo­ralischen Inhaltes hinaus und beginnt sich negativ zu diesem zu ver­halten, d. h. nicht zu dem moralischen Inhalte an sich, sondern nur zu der augenblicklichen niederen Stufe, in der er zum Ausdruck kommt. Es ist einleuchtend, daß ein solcher Zusammenstoß keinen prinzi­piellen Widerspruch zwischen dem persönlichen und dem sozialen Prinzipe als solchem, sondern nur einen Widerspruch zwischen der früheren und der neuen Stufe der persönlichen und der allgemeinen Entwicklung bedeutet.

5

Die moralische Bedeutung und Würde des Menschen kommt zu erst im Leben der Geschlechter zum Ausdrucke,1 Hier finden wir die keimhafte Anlage oder Ausgestaltung aller Moral, sowohl der reli­giösen, als auch altruistischen und asketischen oder mit anderen Wor­ten : das Leben einer Geschlechtsfamilie ist die Verwirklichung der persönlichen menschlichen Würde im engsten Sinne, die Grundlage zu den alles übrige bildenden Kreisen der,menschlichen Gesellschaft, Die erste Bedingung wahrer Menschenwürde, die Ehrfurcht vor dem, was höher ist als der Mensch selbst, vor den übersinnlichen Kräften, die sein Leben leiten, verwirklicht sich hier in der Verehrung der Vor­fahren oder der verstorbenen Ahnen des Geschlechtes. Die zweite Be­dingung der persönlichen Würde, die Anerkennung einer solchen auch bei anderen, kommt in der solidarischen Wechselbeziehung der ein­zelnen Glieder des Geschlechtes untereinander in ihrer Liebe und Ein­tracht zum Ausdrucke. Endlich wird die dritte (von einem anderen Gesichtspunkte aus aber erste) Bedingung der menschlichen Würde, die Freiheit von dem Beherrschtsein durch vorwiegend sinnliche Triebe in gewissem Maße hier mit der einen oder der anderen gesetzlichen Einschränkung oder mit der Regelung der geschlechtlichen Beziehun­gen durch die verschiedenen Formen der Ehe erreicht, oder durch andere einschränkende Verordnungen des Zusammenlebens, die jenes Schamgefühl fordern, von dem uns der Chronist der Vorzeit zu be­richten weiß.

Auf diese Weise wird in dieser ersten Gruppe menschlichen Gemein­schaftslebens die moralische Würde des einzelnen in jeder Beziehung durch die Gemeinschaft selbst und in der Gemeinschaft verwirklicht. Worin kann also hier ein prinzipieller Widerspruch und Widerstreit zwischen der Persönlichkeit und der Gesellschaft zum Ausdruck kom­men und in Erscheinung treten ? Die Beziehung zwischen beiden ist eine direkte und positive. Das allgemeine Gesetz ist für die Persönlich­keit nicht etwas, was ihr von außen auferlegt wurde und ihrer Natur widerspricht, sondern es gibt den inneren Ursachen der persönlichen Moral eine bestimmte, objektive und dauernde Form. So veranlaßt das eigene religiöse Gefühl {das keimhaft schon bei einzelnen Tieren zu finden ist) den Menschen, die geheimnisvollen Ursachen und Be­dingungen seines Daseins zu ehren, und der Ahnenkultus seiner Sippe, seines Geschlechtes ist nur der objektive Ausdruck für dieses Streben.: Ebenso veranlaßt das Gefühl des Mitleides, das dem Menschen eignet, diesen in einem von Gerechtigkeit erfüllten Sinne sich zu den Ange­hörigen seines Geschlechtes zu verhalten, und das allgemeine Gesetz dient nur zur Festigung dieses persönlichen Altruismus in einer dau­ernden und bestimmten Form und gibt diesem Gefühle die Möglich­keit, sich in der richtigen Weise zu verwirklichen (so wird der Schutz schwacher Mitglieder der Sippe gegen fremde Beleidigungen, der für den einzelnen Menschen unmöglich durchzuführen wäre, vom ganzen Geschlechte und der Verbindung einzelner Geschlechter untereinander organisiert). Endlich findet das dem Menschen innewohnende Scham­gefühl in allgemeinen Geboten einer bestimmten Enthaltsamkeit seine äußere Verwirklichung.

Wie kann also hier die persönliche Moral von der allgemeinen ge­trennt werden, da die erstere doch das innere Prinzip der letzteren und diese die objektive Verwirklichung der ersteren ist ? Sobald die Verordnungen des gemeinsamen Lebens der Geschlechter, als da sind Verehrung der gemeinsamen Vorfahren, die gegenseitige Hilfeleistung der Angehörigen eines Geschlechtes untereinander, die Einschränkung des Trieblebens durch die Ehe, einen moralischen Quell und Charakter haben, so ist es einleuchtend, daß die Erfüllung dieser allgemeinen Verordnungen nicht zum Schaden, sondern zum Besten der Person^ lichkeit dient. Je mehr das einzelne Mitglied eines Geschlechtes tat­sächlich den Sinn in der Ordnung des Gemeinschaftslebens begreift, Ehrfurcht vor dem Unsichtbaren, Einigkeit mit dem Nächsten und Mäßigung der sinnlichen Leidenschaft fordert, desto moralischer wird er augenscheinlich sein, und je moralischer er ist, desto größer wird seine innere Bedeutung oder seine persönliche Würde; somit bedeutet die Unterordnung unter die Ordnung des Gemeinwesens die Erhöhung der einzelnen Persönlichkeit. Je freier andererseits der Antrieb ist, mit dem diese Unterordnung erfolgt, d. h. je selbständiger die einzelne Persön­lichkeit dem Antriebe ihrer moralischen Natur folgt, der mit den For­derungen der allgemeinen Moralgesetze übereinstimmt, eine desto bessere und sicherere Stütze kann eine solche Persönlichkeit für die menschliche Gesellschaft sein. Die persönliche Selbständigkeit ist also die Grundlage für die Stärke des menschlichen Gemeinschaftslebens. Mit anderen Worten, die Beziehungen zwischen der wirklichen Bedeutung der Persönlichkeit und der wirklichen Stärke der menschlichen Gesell­schaft stehen nicht in einem umgekehrt, sondern in einem direkt pro­portionalen Verhältnis zueinander.

Worin hätte nun im Leben der einzelnen Geschlechter der prinzi­pielle Widerstreit der Persönlichkeit gegen die Gemeinschaft und ihre Erhebung über dieselbe tatsächlich zum Ausdruck kommen können ? Etwa dadurch, daß solch ein Kämpfer für die scheinbaren Rechte der Persönlichkeit die Grabstätte seiner Vorfahren geschändet, seinen Vater geschmäht, seine Mutter beschimpft, seine Brüder getötet und seine Schwestern geheiratet hätte ? Ebenso einleuchtend, wie es aber ist, daß solche Handlungen unter dem Niveau selbst der niedrigsten Menschheitsstufe stehen, so ist es auch einleuchtend, daß die reale Verwirklichung der absoluten persönlichen Würde durch die einfache Verneinung der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung in keiner Weise vor sich gehen kann.

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Der moralische Inhalt des gemeinsamen Lebens einer Familie oder eines Geschlechtes ist ein ewiger, — die beschränkte Form desselben aber wird im historischen Werdegange unter der tätigen Anteilnahme der einzelnen Persönlichkeit unweigerlich zerstört. Die allererste Er­weiterung des elementaren Lebens ist selbstverständlich durch den natürlichen Vermehrungsprozeß bedingt. Bei dem einzelnen Geschlech­te treten schon gleich nach den nächsten Blutsverwandten auch die weiter entfernten Verwandtschaftsgrade in die Erscheinung, auf die sich die moralischen Verpflichtungen aber auch erstrecken. Darauf geht, gleich der progressiven Teilung der lebendigen organischen Zelle, die Teilung der menschlichen Gemeinschaft, des einen Geschlechtes in mehrere Geschlechter vor sich, die aber ihren Zusammenhang unter­einander und die Erinnerung an die gemeinsame Abstammung be­wahren. Aus dem Geschlechte bildet sich eine neue Gruppe innerhalb der menschlichen Gesellschaft, der Stamm, der einige verwandte Ge­schlechter umfaßt. So ζ. 14;. bestand bei den nordamerikanischen Rot­häuten der Stamm Seneka, dessen Einrichtungen und Lebensweise der bekannte Soziologe Morgan studiert und beschrieben hat, aus acht selbständigen Geschlechtern, die augenscheinlich durch Teilung aus einem einzigen Geschlechte hervorgegangen waren, weshalb sie auch an einer bestimmten Verbindung untereinander festhielten. Jedes

dieser Geschlechter war auf einer anerkannten Blutsverwandtschaft gegründet, und Ehen waren innerhalb des einen Geschlechtes als Blut­schande absolut verboten. Ein solches Geschlecht war autonom, war jedoch schon in gewisser Beziehung der allgemeinen Machtvollkom­menheit des Stammes unterworfen, nämlich der beratenden Körper­schaft, die aus den Vertretern der acht Geschlechter zusammengesetzt war. Abgesehen von dieser kriegspolitischen Einrichtung kam die Ein­heit des Stammes noch in der gemeinsamen Sprache und den gemein­samen religiösen Feiern zum Ausdrucke. Eine Übergangsstufe zwi­schen dem Geschlechte und dem Stamme waren jene Gruppen, die ' Morgan mit der klassischen Bezeichnung „Brüderschaft" benennt. So war der Stamm Seneka in zwei Brüderschaften geteilt mit der gleichen Geschlechterzahl in jeder. Die eine Brüderschaft bestand aus den Ge­schlechtern : Wolf, Bär, Schildkröte und Biber, die andere aus: Hirsch, Schnepfe, Reiher und Falke; die Geschlechter einer Gruppe standen zueinander in einem Verhältnis von Geschlechter-Brüderschaft, und zu den Geschlechtern der anderen Gruppe wie zu Bruders Kindern. Es ist klar, daß das erste Geschlecht, aus dem der Stamm Seneka hervor­ging, sich zuerst in zwei neue Geschlechter teilte, daß dann aus jedem dieser beiden Geschlechter in der Folge vier wurden, und daß dieser Vorgang einer allmählich fortschreitenden Teilung im allgemeinen Bewußtsein erhalten blieb.

Es ist kein Grund anzunehmen, daß die Erweiterung des Gemein­schaftslebens auf eine ganze Gruppe einzelner Geschlechter in den Grenzen einer Stammeseinheit stehen bleiben müsse. Der erweiterte moralische Gesichtskreis, der einerseits gewonnen wurde und die er­kannten Vorteile gemeinschaftlichen Handelns andererseits veran-laßten viele Stämme, Bündnisse untereinander einzugehen, die an­fangs von kürzerer Zeitdauer sind, um dann fortdauernde zu werden. So hat sich ζ. 14;. der Stamm Seneka mit vielen anderen Stämmen zu einem Bunde zusammengeschlossen, der mit dem Namen „Irokesen" bezeichnet wird. Bei solchen Stammes verbänden ist die Voraussetzung gemeinsamer Ahnen der Vorzeit allgemein üblich, braucht aber nicht eine absolute Bedingung zu sein. In vielen, wenn nicht in den meisten Fällen kommen manche Stämme, deren Geschlechtsoberhäupter sich schon seit unvordenklichen Zeiten getrennt haben, und die dann größer wurden und sich selbständig entwickelten, ohne miteinander in Verbindung zu stehen, unter neuen Verhältnissen wieder zusammen und schließen Bündnisse auf Grundlage von Verträgen zu gegenseitigem

Schütze und gemeinsamen Unternehmungen. Der Vertrag hat hier unvergleichlich mehr Bedeutung als die Blutsverwandtschaft, die vielleicht gar nicht vorausgesetzt wird.

Die Vereinigung von Stämmen, insbesondere von solchen, die schon einen gewissen Grad von Bildung erreicht haben und auf einem be­stimmten Territorium leben, stellt schon den Übergang zum Staate, den Keim zu einem Volke, einer Nation dar. Die Irokesen haben sich, wie die Mehrzahl der Indianerstämme überhaupt, die in den wilden Wäldern und Steppen Nordamerikas geblieben sind, nicht über diese Keimanlage zu einem Volke und einem Staate hinausentwickelt. Andere Repräsentanten derselben Rasse, die vom Süden herkamen, gingen verhältnismäßig schnell von der kriegerischen Vereinigung ihrer Stämme zu einer dauernden politischen Ordnung über. Die Az-,teken in Mexiko, die Inkas in Peru begründeten wirkliche nationale Staaten nach der Art großer theokratischer Monarchien der alten Welt. Der innere eigentliche Zusammenhang zwischen der ersten Keim­anlage eines Gemeinschaftslebens, dem Geschlechte, und einer um­fassenden politischen Organisation kommt in dem Worte Vaterland, das in fast allen Sprachen eine nationale und staatliche Verbindung bezeichnet, klar zum Ausdruck.

Indem die Bezeichnung Vaterland (patria) eine verwandtschaftliche Beziehung ausdrückt, weist sie damit nicht darauf hin, daß die staat­liche Einheit nur ein erweitertes Geschlecht sei, was der Wahrheit widersprechen würde, sondern darauf, daß das moralische Prinzip dieser neuen großen Verbindung im Grunde dasselbe sein soll, wie das Prinzip der kleinen Verbindung der Geschlechter. In Wirklichkeit sind die Staaten aus Kriegen und Verträgen hervorgegangen, was aber nicht hindert, daß Zweck und Sinn ihrer Bildung darin besteht, im weiteren Gebiete der inneren und sogar der internationalen Be­ziehungen der Völker eine gleiche Solidarität oder ein friedliches Zu­sammenleben der Menschen herzustellen, wie es von alters her in den Geschlechtern vorhanden ist.

Den Prozeß der Staatenbildung und die mit ihm verbundenen Ver­änderungen im äußeren Leben der Menschen zu betrachten, ist nicht unsere Aufgabe; uns beschäftigt nur das moralische Verhältnis der Persönlichkeit zu dieser neuen sozialen Umgebung. Solange über das Geschlecht oder die Familie hinaus sich nur Anfänge und Ver­suche zur Bildung höherer Formen in der Gestalt von Stämmen oder Stammes verbänden erhoben, änderte sich die Lage der Persönlichkeit nicht wesentlich, oder wenn es geschah, so doch nur sozusagen qualitativ, nämlich das moralische Bewußtsein erhielt eine größere Befriedigung und konnte sich vollkommener entwickeln, dank dem erweiterten Gebiete praktischer Wechselbeziehungen; das war aber auch alles.

Der göttliche Vorfahr des gegebenen Geschlechtes fand seine Brüder auch in den Göttern anderer Geschlechter; es entstand eine gegen­seitige Anerkennung der Götter, die Religionen der einzelnen Völker vereinigten sich und erhielten zum Teil (periodisch zur Zeit gemein­samer Stammesfestlichkeiten) eine allgemeine Bedeutung; der Cha­rakter der Gott es Verehrung blieb jedoch derselbe. Ebenso blieb der Ausdruck der menschlichen Solidarität, nämlich der Schutz der An­gehörigen und die Pflicht, ihnen zugefügte Beleidigungen zu rächen, bei der Bildung eines Stammes und der Vereinigung mehrerer Stämme unantastbar. Eine wesentliche Veränderung ergab sich bei Entstehung des Vaterlandes und des Staates. Obgleich die nationale Religion aus dem Ahnenkulte sich entwickelt hatte, geriet ihre Entstehung bei dem Volke selbst in Vergessenheit. Ebenso ist eine leidenschaftslose Staats­justiz etwas wesentlich anderes als die Blutrache. Hier sehen wir schon nicht mehr bloß eine Erweiterung der früheren Ordnung (der Ge­schlechter), sondern die Entstehung einer neuen. Und im Zusammen­hange mit der Entstehung dieser neuen staatlich-nationalen Ordnung konnte ein moralischer, prinzipieller Zusammenstoß zwischen den sich bildenden sozialen Kräften entstehen, was auch in der Tat geschah, und dieser Zusammenstoß kann dem oberflächlichen Beobachter als das Zusammenprallen der Persönlichkeit mit der menschlichen Ge­sellschaft als solcher erscheinen.

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Weder der Stamm und die Vereinigung mehrerer Stämme, noch die W nationale Staatsorganisation, das Vaterland, macht die allererste Anlage eines Gemeinschaftslebens überflüssig, es ändert nur ihre Be­deutung. Diese Veränderung kann kurz und vollkommen genau so formuliert werden: Die staatliche Ordnung verwandelt das Geschlecht in die Familie. In der Tat, vor der Bildung des Staates gibt es, strenge genommen, keine Familie. Jene elementare Gruppe durch mehr oder, weniger nahe Blutsbande untereinander verbundener Menschen, die das Gemeinschaftsleben jener Zeiten darstellen, hat in ihrem wesent­liehen Grundzuge durchaus keine Ähnlichkeit mit einer Familie ünserer Zeit. Das unterscheidende Merkmal der Familie besteht darin, daß sie eine in sich abgeschlossene, private Lebensform im Gegensatze zum öffentlichen Leben darstellt. Eine öffentliche Familie ist ein Wider­spruch in sich. Dieser Unterschied aber zwischen einer öffentlichen und einer privaten Lebensform konnte nur durch die Bildung und Entwicklung des Staates entstehen, der gerade die öffentliche Seite des Gemeinschaftslebens darstellt. Früher jedoch, bevor sich die recht­liche und politische Tätigkeit des Gemeinschaftslebens vom persön­lichen Leben abgetrennt hatte, als das Gericht und die Rechtspre­chung, als Krieg und Frieden noch eigene Angelegenheit der elemen­taren, unter sich blutsverwandten Menschengruppen waren, besaßen natürlich solche Gruppen und selbst die untereinander am engsten verbundenen nicht die bezeichnenden Merkmale einer Familie oder eines häuslichen Gemeinwesens und erhielten diesen neuen Charakter­zug erst dann, als die genannten Funktionen dem Staate als einer be­sonderen, öffentlichen oder allgemein-nationalen Organisation zu­fielen.

Diese Umwandlung jedoch des früheren Geschlechtes, d. h. des poli­tisch-volklichen Verbandes der Familie in eine ausschließlich private oder häusliche Lebensform konnte auf zweierlei Weise betrachtet werden, nämlich als Reinigung und innere Höherentwicklung der ver­wandtschaftlichen Bande oder als äußere Verringerung ihres Wertes, als äußerer Niedergang.1

Da die Pflichten der einzelnen Persönlichkeit gegen ihre Familie lange Zeiten hindurch der einzige Ausdruck ihres moralischen Wertes waren, so können träge oder passive Naturen die Unterordnung der Familie oder des Geschlechtes unter eine neue, höhere Einheit, das Vaterland oder den Staat, wohl für etwas Unmoralisches halten. Für das persönliche Bewußtsein ergibt sich eine Frage, die bis dahin nicht möglich war, nämlich: für welche der beiden Arten menschlichen Ge­meinschaftslebens, für die engere, mir näher stehende oder für die um­fassendere und mir persönlich ferner liegende, habe ich mich zu ent­scheiden ?

Wie jedoch auch immer diese Frage von dem einen oder anderen beantwortet werden mag, in jedem Falle ist es einleuchtend, daß es sich nicht um die einzelne Persönlichkeit oder um die Gesamtheit als solche, ja sogar nicht einmal um die beiden Arten sozialer Vereinigung — das Gemeinwesen innerhalb eines Geschlechtes oder innerhalb einer Nation — handelt, sondern lediglich um den Stillstand der Mensch­heit auf der Stufe des Familien- oder Geschlechterlebens, oder ihre Fortentwicklung durch eine staatliche Ordnung.

Wenn die einzelne Persönlichkeit im Gemeinschaftsleben der Ge­schlechter, in ihren moralischen Geboten und Einrichtungen den eige­nen Wert besser zum Ausdrucke bringen kann, als im Zustande eines tierischen Sonderseins, so zeigt schon die geschichtliche Erfahrung, daß die weitere Entwicklung und Vervollkommnung der Persönlich­keit jener komplizierteren Lebensbedingungen bedarf, die nur von einem ausgebildeten Staate geschaffen werden können. Mag die un­reife Phantasie eines jugendlichen Dichters immerhin das halbwilde Leben umherziehender Zigeuner verherrlichen, die unumstößliche Wertung dieser Phantasie liegt in der einfachen Tatsache, daß der Ab­kömmling einer gebildeten menschlichen Gemeinschaft, Alexander Puschkin, wohl seine „Zigeuner" dichten, die Zigeuner aber mit allen ihren eingebildeten Vorzügen keineswegs einen Puschkin[2] hervor­bringen konnten. Alles das, womit wir unseren Geist nähren, alles das, was unserem Leben auf dem Gebiete der Religion, der Wissenschaft und Kunst Schönheit und Wert verleiht, ist auf dem Boden eines ge­bildeten, durch staatliche Ordnung bedingten Gemeinschaftslebens entstanden; es wurde nicht durch die Familie oder das Geschlecht, sondern durch das Vaterland geschaffen.

Daher waren aber auch jene Menschen, die sich schon zur Zeit der Herrschaft des Stammeslebens für das erst entstehende oder gar nur vorausgeahnte und von ihnen erst zu begründende Vaterland ein­setzten, die Träger eines höheren Bewußtseins, der höchsten indi­viduell-sozialen Moral. Sie waren die Wohltäter der Menschheit, die Heroen der Geschichte, und nicht umsonst wurden solche Menschen von den dankbaren Bürgern Griechenlands und anderer Länder als Helden verehrt.

Der Fortschritt der menschlichen Gesellschaft ist keine unpersön­liche Angelegenheit. Der Zusammenstoß einer von Unternehmungs-

geist beseelten Persönlichkeit mit ihrer nächsten sozialen Umgebung führte zur Gründung eines erweiterten und bedeutungsvolleren Ver­bandes — dem Vaterlande. Die Träger eines über das Stammesleben hinausgehenden Bewußtseins, oder genauer, die Träger eines halbun­bewußten Strebens nach einer moralischen und sozialen Erweiterung lösen sich von ihrer Stammesgemeinschaft, in der sie sich beengt fühl­ten, ab, sammelten um sich eine freiwillige Krieger schar und gründeten Städte und Staaten.

Die Willkür einer scheinbaren wissenschaftlichen Kritik hat die flüch­tige Dido, die Begründerin Karthagos und jenes enterbte Brüderpaar, das Rom gründete, eiligst in das Gebiet der Sage verwiesen. Aber auch schon durchaus geschichtliche Zeiträume bieten genügend Beispiele, die uns ein berechtigtes Vertrauen zu jenen alten Überlieferungen geben können. Die persönliche Heldentat eines einzelnen, durch welche ge­gebene soziale Grenzen zerstört und neue politische Organisationen einer höheren Kulturstufe geschaffen werden, ist eine allzu grund­legende Erscheinung, als daß wir ihr nicht in allen Lebensaltern des Menschengeschlechtes begegnen könnten1.

Nicht nur auf Grund geschichtlicher, sondern auch naturwissenschaft­lich-historischer Erfahrungen ist es unmöglich, anzunehmen, daß eine gegebene, organisierte Gemeinschaft anders als durch die Mitwirkung definitiver Einheiten, aus denen sie selbst besteht, zerfallen oder einer wesentlichen Umgestaltung unterliegen, z. B. in den Bestand eines anderen größeren Ganzen übergehen könnte.1

Die definitive Einheit der menschlichen Gesellschaft ist die Persön­lichkeit, und zu allen Zeiten war sie das aktive Prinzip des historischen Fortschrittes, d. h. des Überganges von engbegrenzten und dürftigen Lebensformen zu größeren und inhaltsvolleren sozialen Organisa­tionen.

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Eine gegebene soziale Gruppe, sagen wir das Geschlecht, besitzt auf den einzelnen Menschen Rechte, da er nur in ihr und durch sie seine inneren Werte verwirklichen kann. Diese sozialen Rechte an die Persönlichkeit können jedoch keineswegs absolut sein, weil die gegebene Gruppe in ihrer Sonderheit nur eine relative Stufe des histo­rischen Fortschrittes darstellt, wahrend die menschliche Persönlich­keit alle Entwicklungsstufen durchmachen kann, denn sie besitzt in sich das Streben nach unendlicher Vollkommenheit, und dieses Stre­ben findet, da es in irgendeiner eng begrenzten sozialen Ordnung eich augenscheinlich nicht ganz ausleben kann, in ihr nicht seine vollkommene Befriedigung. Oder mit anderen Worten: kraft der ihr eigentümlichen inneren Unbegrenztheit kann die einzelne Persönlichkeit nicht mit dem menschlichen Gemeinschaftsleben in seiner jeweiligen ge­gebenen Begrenztheit, sondern nur in seiner unbegrenzten Gesamtheit end­gültig und absolut solidarisch und untrennbar verbunden sein-, welche Gesamtheit dann allmählich und nach Maßgabe dessen zutage tritt, wie die allgemeinen Formen in Wechselwirkung mit den einzelnen Persön­lichkeiten sich erweitern, wachsen und sich vervollkommnen. Der per­sönliche Fortschritt ist nur in einer menschlichen Gemeinschaft, je­doch nur in einer fortschrittlich regsamen Gemeinschaft, fruchtbar. Sich bedingungslos irgendeiner beschränkten, unregsamen Form des Gemeinschaftslebens hinzugeben, dazu ist der Mensch nicht nur nicht verpflichtet, sondern dazu hat er auch gar kein Recht, denn das könnte nur zum Schaden seiner Menschenwürde geschehen.

Wenn nun aber auf diese Weise ein von Unternehmungsgeist be­seeltes Mitglied dieses Geschlechtes wohl moralisch dazu berechtigt ist, dem Konservativismus seiner Sippe entgegenzuwirken und an der Bil­dung eines Staatswesens tätigen Anteil zu nehmen, wodurch sich die früher selbständigen sozialen Gruppen in die elementaren Zellen eines neuen großen Ganzen verwandeln, so folgt daraus aber auch, daß diese neue Staatenordnung durchaus keine absoluten Rechte über die früheren blutsverwandten (von jetzt ab nur noch zur Familie gehöri­gen) Mitglieder besitzt. Indem die staatliche Ordnung nur eine ent­sprechend höhere, keineswegs jedoch absolute Form des menschlichen Gemeinschaftslebens darstellt, besitzt diese Ordnung nur einen rela­tiven Vorzug vor der bisherigen Ordnung der Geschlechter. Diese Ord­nung, die nur eine vorübergehende Stufe in der allgemeinen Entwick­lung bedeutet, enthält jedoch ein gewisses absolut moralisches Element, das auch im Staatenwesen seine Kraft bewahrt und das auch diesem heilig sein muß.

In der Tat, wir unterscheiden in der Moral der Geschlechter ganz klar einen zwiefachen Sinn; erstens nämlich das, was mit der Vor­stellung von einem Stamme oder einem Geschlechte zusammenhängt als einer vollkommen unabhängigen oder autonomen Form des Ge­meinschaftslebens, wie es zur gegebenen Zeit auch wirklich bestand, das aber bei seiner Umwandlung zu einem Staatenwesen zu sein auf­hörte und was also das vorübergehende, das zu beseitigende Element in der moralischen Ordnung des Stammeslebens darstellt; und zwei­tens unterscheiden wir die natürlichen Pflichten, die sich aus den engen Blutsbanden und dem beständigen Zusammenleben ergeben, und die augenscheinlich ihre volle Bedeutung auch beim Übergange zur staat­lichen Ordnung oder, was dasselbe ist, bei der Umwandlung des Ge­schlechtes in die Familie bewahren. Die rauhe Schale der Organisation innerhalb der einzelnen Geschlechter ist geborsten und zerfallen, der moralische Kern der Familie ist jedoch geblieben und wird bis ans Ende der Geschichte bestehen bleiben.

Mittlerweile konnten die Häupter des jungen Staates — nachdem der Übergang zu einer neuen Lebensform sich gerade vollzogen hatte — im Bewußtsein seiner soeben entdeckten Vorzüge vor dem alten Geschlechterverbande, gar zu leicht dieser neuen Ordnung eine abso­lute, ihr nicht zukommende Bedeutung beimessen und das Staats­gesetz über das natürliche Gesetz stellen. Bei den sich hieraus ergeben­den Zusammenstößen kommt das moralische Recht schon nicht mehr diesen Repräsentanten einer relativ höheren Ordnung des mensch­lichen Gemeinschaftslebens, sondern den Verteidigern jenes absoluten Etwas aus der Vergangenheit zu, das in jeder Form menschlichen Ge­meinwesens gleichermaßen heilig gehalten werden muß. Hier hört der Konservativismus auf, ein blindes oder eigennütziges Beharrungsver­mögen zu sein und wird zum reinen Bewußtsein einer höheren Pflicht. Hier wird die Verkörperung des erhaltenden Prinzips — die Frau — sonst die Verteidigerin eines untergeordneten Gewohnheitsmäßigen, zur Trägerin eines moralischen Heroismus. Die Antigone des Sopho­kles ist die Verkörperung jenes absolut Wertvollen, das von der alten Geschlechterordnung her erhalten geblieben ist (und auch auf immer er­halten bleiben wird), als diese sich bei Beginn des Staatenwesens in die Familie auflöste. Antigone denkt durchaus nicht an die politische Auto­nomie ihres Geschlechtes, an das Recht der Blutrache usf. — sondern

sie besteht nur auf ihrem unbedingten Rechte, die Pflichten der Pie­tät und der Bruderliebe erfüllen und ihrem nächsten Blutsverwandten ein ehrliches Begräbnis geben zu dürfen, derein solches von niemandem anderen als nur von ihr erhalten kann. In ihr lebt keine Feindschaft gegen die Ordnung des Staates in seinen moralischen Grundlagen, sondern nur die vollkommen aufrichtige Überzeugung, daß außerhalb dieser Grundlagen die Forderungen des positiven Gesetzes keine ab­soluten sind, sondern ihre Grenzen im natürlichen Rechte finden, das von der Religion geheiligt ist und die Familienpflichten schützt, selbst gegen den Staat, wenn er sich etwas anmaßt, was ihm nicht zukommt. Die Gegnerschaft zwischen Antigone und Kreon ist nicht ein Zusam­menstoß zweier moralischer Kräfte, der persönlichen und allgemeinen, sondern es ist der Zusammenstoß einer moralischen Kraft als einer solchen mit einer der Moral widersprechenden Kraft. Mit der allge­mein üblichen Anschauung über Antigone als der Trägerin und Ver­teidigerin des persönlichen Gefühles gegen das allgemeine Gesetz, das in Kreon, dem Vertreter der Vaterlandsidee verkörpert ist, können wir nicht übereinstimmen. Der wahre Sinn der Tragödie ist ein voll­kommen anderer. Die religiöse Beziehung zu den Toten ist eine mo­ralische Pflicht, auf deren Erfüllung jede menschliche Gemeinschaft begründet ist, während das persönliche Gefühl nur die subjektive Seite der Sache zum Ausdrucke bringt. Selbst in unserer Zeit vollzieht sich die Bestattung und Ehrung der toten Blutsverwandten nicht nur nach dem persönlichen Gefühle allein — umsomehr war das noch der Fall in der Vorzeit. Das Gefühl kann fehlen, die Pflicht aber bleibt. Antigone hatte zu ihren beiden Brüdern eine warme Anhänglichkeit, eine heilige Pflicht aber verband sie mit demjenigen der beiden, der ihres religiösen Beistandes bedurfte. Als Vorbild einer moralischen Persönlichkeit ist Antigone auch zugleich die Vertreterin des wahren Gemeinschaftslebens, das nur auf Pflichterfüllung beruht. Ohne ihre Gefühle zu verbergen, beruft sie sich nicht auf sie als auf die Ursachen ihrer Handlungen, sondern auf ihre heilige Pflicht, die bis zum Ende erfüllt werden muß (φίλ_1; μετ αντοa1; κ^1;ίσομαι, φίλον μετά, δοια πανον`1;γήοαοα), obgleich diese Pflicht kein abstraktes Gebot ist, sondern der Ausdruck einer realen ewigen Ordnung:

... Ist der Zeit doch mehr,

Die jenen ich gefallen muß als denen hier,

Denn dorten werd ich ewig ruhn — Du wenn Du darfst —

Verachte was vor Göttern wert geachtet ist.

Und auf die Frage des Kreon: „Und unterfingst dich, gegen das Gesetz zu tun ?" beruft sie sich auf ihr persönliches Gefühl, auf das absolute Gesetz einer ewigen, moralischen Ordnung, deren niemand durch bürgerliche Gesetze überhoben wird:

War es doch Zeus nicht, der mir dies verkünden ließ, Und in der untern Götter Haus auch Dike nicht, Die solche Satzung aufgestellt den Sterblichen. Und so erhaben hielt ich deine Verkündung nicht, Daß höher als des Himmels ungeschriebene, Unwandelbare Rechte sei solch Menschenwort.

Seinerseits ist Kreon durchaus nicht der Vertreter des Staatswesens, dessen Grundlage die gleiche ist, wie beim Geschlechte, nur mit dem Vorzüge einer vollkommeneren Verwirklichung, sondern er ist der Vertreter eines Staatswesens, das verderbt ist oder das sich von einem falschen Standpunkte aus selbst überhebt. Woraus anders aber hat sich nun dieser falsche Standpunkt, der nicht das Wesen und Ziel des Staa­tes ausmacht, ergeben, als aus den bösen persönlichen Leidenschaften seiner Vertreter, in diesem Falle also Kreons ? Wir könnten also mit dem gleichen Rechte im Gegensatze zur populären Vorstellung sagen, daß Antigone die Trägerin der allgemein-menschlichen und Kreon der persönlichen Prinzipien sei. Jedoch sowohl das eine als auch das andere wäre ungenau und ungenügend. Es ist klar, daß die Gegenüberstellung der Persönlichkeit und der menschlichen Gemeinschaft, des persön­lichen und des allgemeinen menschlichen Prinzipes, sowohl in diesem Falle, als auch in allen anderen Fällen mit den wahren Tatsachen nicht übereinstimmt. Der wirkliche Gegensatz und Zusammenstoß ist hier kein soziologischer, sondern ein rein moralischer zwischen dem Guten und dem Bösen, von denen jeder vom anderen nicht gesondert, sowohl im persönlichen als auch im Gemeinschaftsleben zum Aus­drucke kommt. Kam erschlug Abel nicht weil er der Vertreter des persönlichen Prinzipes im Gegensatze zu den Blutsbanden war, —denn dann müßten alle entwickelten ,,Persönlichkeiten" unbedingt ihre Brüder umbringen — sondern er erschlug ihn als der Vertreter des bösen Prinzipes, das sowohl vereinzelt als allgemein, sowohl in der einzelnen Persönlichkeit, als auch bei der Gesamtheit in Erschei­nung treten kann. Und Kreon wieder verbot den Bürgern die Er­füllung gewisser religiös-moralischer Pflichten nicht aus dem Grund, weil er das Staatsoberhaupt war, sondern weil er böse war und sich jenem Prinzipe unterwarf, das in Kain wirkte zu einer Zeit, als es noch gar keine Staatenbildung gab. Gewiß ist jedes Gesetz eine staatliche

Handlung, aber der Standpunkt;.Kreons wird nicht dadurch bestimmt, daß er ein Gesetz aufstellte, sondern daß dieses Gesetz gegen die Ehr­furcht verstieß, und daran trug der Staat keine Schuld, sondern die moralische Unzulänglichkeit des Kreon; denn wer könnte sich wohl zu der Behauptung entschließen, daß die Tätigkeit des Staates unbe­dingt darin bestehe, nicht irgendwelche Gesetze, sondern nur der Ehr­furcht und Menschlichkeit zuwiderlaufende Gesetze aufzustellen ?

Somit ist also Kreon nicht der Träger des staatlichen, sondern des bösen Prinzipes, das im persönlichen Willen seine Wurzel hat, sich jedoch im menschlichen Gemeinschaftsleben, in diesem Falle in Form eines schlechten staatlichen Gesetzes, zum Ausdrucke bringt und sich verkörpert. Und Antigone, die ihr Leben opfert für die Erfüllung einer religiös-moralischen Pflicht, die dem Gemeinschaftsleben zu­grunde liegt, ist nur die Vertreterin des Guten, das auch im persön­lichen Willen seine Wurzel hat, sich aber in einem wahren Gemein­wesen verwirklicht. Jede Kollision wird im Leben der Menschheit endgültig nicht auf die relativen, soziologischen Gegensätze, sondern auf den absoluten Gegensatz des Guten und des sich selbst behaup­tenden Bösen zurückgeführt. Wenn aber auf diese Weise das innerste Wesen dieser Frage immer ein und dasselbe ist, so folgt daraus doch nicht, daß die verschiedenen historischen Standpunkte, durch die sich diese Frage immer wieder offenbart, selbst in ethischer Hinsicht des eigentlichen Interesses und einer eigentlichen Bedeutung entbehren. Das innerste Wesen des Guten und des Bösen wird nicht anders mit voller Klarheit erkannt, als nur in seinen typischen Ausdrucks­formen. Das Böse, das sich in einer Verkehrung der staatlichen Idee oder in dem Übergewichte des staatlichen über das moralische Gesetz auslebt, ist ein vollkommen spezifisches Böses oder eine besondere, höhere Form des Bösen als ζ. 14;. ein Totschlag oder sogar ein Bruder­mord. Es ist aber infolge seiner größeren Feinheit und Kompliziert­heit subjektiv entschuldbarer oder weniger als Schuld anzurechnen, als solch grobe Missetaten. Darum muß Kreon z. B., wenn er auch für die Allgemeinheit schädlicher ist, persönlich für weniger schuldig gel­ten als Kain.

In diesem großen Drama ist noch eine andere wichtige Seite der Sach­lage vorhanden. Die staatliche Ordnung ist überhaupt eine höhere Stufe der historischen Entwicklung im Vergleiche zum Stammesleben. Diese höhere Stufe war eben in Hellas erreicht. Bei den Vertretern der neuen Ordnung ist die Erinnerung an ihre Entstehung, an Kampf

und Sieg noch frisch. Dieser jüngste Sieg des Neuen über das Alte, des Höheren über das Niedere ist nicht irgend etwas Zufälliges, sondern im Hinblicke auf die offenbaren Vorzüge eines einigenden Staatswesens vor den sich streitenden Stämmen wird der Sieg des Staates als eine fortschrittliche, notwendige und pflichtgemäße Erscheinung erkannt. Hieraus ergibt sich die Selbstsicherheit Kreons im Beginne des Dra­mas. Das von ihm gegebene böse Gesetz, das den Gehorsam gegenüber dem neuen Vaterlande über die früheren religiösen Pflichten stellt, ist nicht nur ein Mißbrauch der staatlichen Macht, sondern auch ein Miß­brauch des Sieges, nicht eines örtlichen Sieges der Thebaner über die Argiver, sondern der allgemeine Sieg der staatlichen Ordnung, des Vaterlandes und der Stadt über den Stamm.

Darum kann Kreon nicht nur als ein Tyrann angesehen werden — und die Alten taten es auch nicht — im Sinne persönlicher Willkür und tatsächlicher Macht1. In dem von ihm gegebenen Gesetze war der Aus­druck des Gesamtwillens der Bürger vorausgesetzt. Das kurze Vor­wort des Grammatikers Aristophanes, das gewöhnlich dem Drama vorausgesetzt wird, beginnt so: ,,Antigone, die den Polyneikes ent­gegen der Anordnung der Stadt (oder des Staates) beerdigt — πα`1 τ_1 π`1;όαταξιν τ_1 πόλεως —. Und bei Sophokles selbst rechtfertigt Ismene ihre Weigerung, der Antigone zu helfen damit, daß sie sagt, sie könne den Willen ihrer Mitbürger nicht vergewaltigen. Und Kreon tritt nicht im Namen autokratischer Macht, sondern im Namen der absoluten Bedeutung der patriotischen Idee auf :

Und wer, das eigne Vaterland nachsetzend, mehr Des Freundes achtet, dünket ganz unwürdig mir.

Die ethisch-psychologische Grundlage des bösen Gesetzes liegt na­türlich im bösen Willen des Kreon; aber dieser Wille ist nicht nur eine sinnlose, persönliche Willkür, sondern er ist mit einer allgemeinen Idee verbunden, die wohl falsch, aber dennoch eine Idee ist, kraft der die staatliche Gewalt und ihre Gesetze über dem moralischen Gesetze stehen. Kreon drückt diese falsche Idee vollkommen scharf aus, indem er sagt:

... wen die Stadt bestellte, dem gehorche man, In Kleinem und Gerechtem, und was drüber ist!

Diese Idee, ungeachtet ihrer himmelschreienden Unwahrheit, be­geisterte und begeistert auch heute noch Leute, die keine solche Ent­schuldigung für sich geltend machen können, wie Kreon, der vom jüngsten Fortschritte, dem Siege der staatlichen Ordnung über die Willkür der Geschlechter und Stämme, hingerissen war.

Wenn andererseits in diesen halbgeschichtlichen Zeiten sich auch keine so klaren Widersprüche einer besseren Erkenntnis gegen diese unwahre Idee erhoben, wie Sophokles sie seiner Antigone in den Mund legt, so begriffen in jener Zeit des Sophokles schon die besten Geister genügend, daß der historische Fortschritt, der neue Formen des Ge­meinschaftslebens schafft, den eigentlichen Grundlagen jeden Gemein­wesens vorgezogen werden kann, daß er wohl eine notwendige und wichtige, jedoch nur relative, höheren Zielen untergeordnete Erschei­nung ist, und daß er jede Rechtfertigung seines Daseins verliert, wenn er sich gegen jenes absolute, moralische Gute richtet, um dessen Verv wirklichung willen sich jede Bewegung in der Geschichte vollzieht. Und wie hoch wir auch immer die Sieger des Fortschrittes einwerten, die höchste Würde des Menschen, die ihn vollkommen rechtfertigt und das Mitgefühl für ihn aufruft, besteht nicht darin, Sieger in der Zeit zu sein, sondern darin, die ewigen Grenzen zu hüten, die der Vergangen­heit und der Zukunft gleich heilig sind.



* Solowjew, Wladimir.  Die Rechtfertigung des Guten. Eine Moralphilosophie. Jena: Verlegt bei Eugen Diederichs, 1916. S. 218-241.

[1] Die Bedeutung des Bildes und Gleichnisses Gottes ist im inneren Zusammen­hange und im relativen Unterschiede beider Ausdrücke im Grunde dasselbe, worauf schon früher im 2. Teile hingewiesen wurde. Es ist klar, daß die unend­liche Kraft der Vorstellung und des Begreifens aller Dinge uns nur ein Bild (schema) der Vollkommenheit geben kann, während das unbegrenzte Streben, das die reale Verwirklichung der Vollkommenheit zum Ziele hat, der Beginn unseres Gleichseins (Gleichnisses) mit dem lebendigen Gott ist, der nicht nur in der Idee, sondern in Wirklichkeit die Vollkommenheit selbst ist, der wir ja auch zustreben.

1 Ich verstehe hier das Geschlecht oder den Stamm im erweiterten Sinne, — als eine Gruppe von Menschen, die miteinander durch Verwandtschaft des Blutes oder der Art zu einem in sich abgeschlossenen Gemeinschaftsleben verbunden sind, wie auch immer die grundlegende Form dieser Verbindung sein möge, sei es die „Zweipaarungs-" oder „Punalua-Ehe", das Matriarchat oder das Pa­triarchat.

1 Dieser zweifache Gesichtspunkt kann durch ein analoges Beispiel auf einem ganz anderen Gebiete erklärt werden. Selbst aufrichtige und gute Katholiken können nämlich den Verlust der weltlichen Macht des Papstes oder die Auf­hebung des Kirchenstaates auf verschiedene, ja direkt entgegengesetzte Weise betrachten, entweder als eine günstige Bedingung zur Erhöhung der inneren, moralischen Autorität des Papstes, oder aber als eine bedauerliche Verminderung und Herabsetzung seiner politischen Aufgabe.

[2] Übrigens hat derselbe Dichter ein reiferes Werk seiner Dichtkunst in ehr­fürchtiger Verehrung dem Historiker des russischen Staatslebens gewidmet.

1 Die Torheit eines solchen Gesichtspunktes, auf den sich gewöhnlich eine ver­neinende Geschichtskritik stellt, wirkt nur deshalb nicht allgemein lächerlich, weil ihre Objekte im Dämmerdunkel der Zeiten versunken sind. Wenn wir ihre beliebten Handgriffe und Schlußfolgerungen z. B. auf Muhammed oder auf Peter den Großen anwenden wollten, so würde von diesen historischen Helden ebenso­wenig übrig bleiben, wie von Dido und Romulus. Jeder, der das vorzügliche Buch von Whatly über Napoleon gelesen hat, muß zugeben, daß die solare Bedeutung dieses mythologischen Helden nach den strengen Gesetzen der kri­tischen Schule bewiesen wird, und zwar mit einer solchen Folgerichtigkeit, Klar­heit und Abgeschlossenheit, wie wir sie kaum bei solchen mehr oder weniger berühmten Werken einer negativen Kritik finden, die nicht zum Spott, sondern in allerernstester Absicht geschrieben wurden.

1 Das griechische Wort τύ`1;αννος hatte anfangs, wie wir wissen, keinen schlim­men Nebensinn, sondern war die Bezeichnung für jeden Monarchen; so heißt in dieser Trilogie des Sophokles das erste Drama Οιδίπους τύ`1;αννος, was durch­aus richtig mit ,,König Oedipus" übersetzt wird, und nicht anders soll dieses Wort in der Antigone in bezug auf Kreon übersetzt werden·

Letzte Aenderung: 10:45 22.10.2005

 
 
 

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