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III. Philosophischer Diskurs.

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Johann Gottlieb Fichte. Sonnenklarer Bericht an das grössere Publicum, über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie

(1801) [1]

Vierte Lehrstunde

Der Autor. Es wird gesagt, dass ein gewisses System des Bewusstseyns für das vernünftige Wesen sey, so wie dieses Wesen nur selbst sey. Lässt das in diesem Bewusstseyn Enthaltene sich bei jedem Menschen voraussetzen?

Der Leser. Ohne Zweifel. Es liegt ja schon unmittelbar in deiner Beschreibung jenes Systemes, dass dasselbe allen Menschen gemeinschaftlich sey.

D.A. Lässt sich auch voraussetzen, dass Jeder die Gegenstände hieraus richtig beurtheilen, und von einem auf das andere ohne Fehl schliessen werde?

D.L. Wenn er das Allen angeborene und zu jenem Systeme gleichfalls gehörende Vermögen des Urtheils einigermaassen geübt hat, allerdings. Es ist sogar billig, dass man diese mässige Uebung der Urtheilskraft bei jedem ohne weiteres voraussetze, bis das Gegentheil bewiesen ist.

D.A. Was aber in jenem, allen Menschen gleichsam zur Ausstattung mitgegebenen allgemeinen Systeme nicht liegt, sondern erst durch eine willkürliche und freie Abstraction und Reflexion hervorgebracht werden muss, lässt sich dies auch bei jedwedem ohne weiteres als bekannt voraussetzen?

D.L. Offenbar nicht. Jeder erhält es erst dadurch, dass er die erforderliche Abstraction mit Freiheit vornimmt, und ausserdem hat er es nicht.

D.A. Wenn sonach etwa jemand über das oben sattsam beschriebene Ich, von welchem die Wissenschaftslehre ausgeht, sein Urtheil abgeben wollte, und dieses Ich in dem gemeinen Bewusstseyn als ein gegebenes suchte: konnte dessen Rede zur Sache passen?

D.L. Offenbar nicht: denn dasjenige, wovon geredet wird, wird gar nicht im gemeinen Bewusstseyn gefunden, sondern es muss erst durch eine freie Abstraction erzeugt werden.

D.A. Ferner, der Wissenschaftslehrer beschreibt, so wie wir sein Verfahren haben kennen lernen, von diesem ersten Gliede aus eine stätige Reihe von Bestimmungen des Bewusstseyns, in welche an jedes vorhergehende Glied in der Reihe sich ein zweites, an dieses ein drittes hängt, u.s.w. Diese Glieder seiner Kette nun sind es, von welchen er spricht, und seine Sätze und Behauptungen aussaget. Auf welche Weise kann nun wohl jemand von dem ersten aus zum zweiten, von diesem zum dritten, u.s.f. kommen?

D.L. Deiner Beschreibung nach lediglich dadurch, dass er das erste wirklich innerlich in sich selbst construirt, dabei in sich hineinsieht, ob ihm in der Construction desselben ein zweites entstehe, und was dieses sey; dieses zweite wiederum construirt, und attendirt, ob ihm ein drittes entstehe, und welches, u.s.w. Nur in dieser Anschauung seines Construirens erhält er den Gegenstand, von dem Etwas ausgesagt wird; und ohne dieses Construiren ist für ihn gar nichts da, wovon geredet wurde. So nemlich müsste sich die Sache deiner obigen Beschreibung nach verhalten: und so hast du ohne Zweifel gewollt, dass ich dir antworte.

Mir aber stösst hierbei noch folgender Zweifel auf. Diese Reihe, die der Wissenschaftslehrer beschreibt, besteht aus getrennten, besonderen Bestimmungen des Bewusstseyns. Aber auch in dem wirklichen gemeinen Bewusstseyn, welches einem jeden ohne alle Wissenschaftslehre zukommt, giebt es abgesonderte Mannigfaltige des Bewusstseyns. Sind nun die ersteren dieselben, auf eben diese Weise getrennt und geschieden, wie die letzteren: so sind die Elemente in der Reihe der Wissenschaftslehre auch aus dem wirklichen Bewusstseyn bekannt; und es bedarf gerade nicht der Anschauung, um dieselben kennbar zu machen.

D.A. Es reicht hier vollkommen hin, dir nur kurz und historisch zu sagen, dass die Absonderungen der Wissenschaftslehre und die des wirklichen Bewusstseyns durchaus nicht dieselben, sondern völlig verschieden sind. Zwar kommen die des Bewusstseyns in der Wissenschaftslehre gleichfalls vor, aber nur als letztes Abgeleitetes: Auf dem Wege ihrer Ableitung aber liegen in der philosophischen Construction und Anschauung noch ganz andere Elemente, durch deren Vereinigung erst ein abgesondertes Ganzes des wirklichen Bewusstseyns überhaupt entsteht.

Dass ich hiervon ein Beispiel anführe! - Das Ich des wirklichen Bewusstseyns ist allerdings auch ein besonderes und abgetrenntes: es ist eine Person unter mehreren Personen, welche insgesammt, jeder für sich, sich gleichfalls Ich nennen; und eben bis zum Bewusstseyn dieser Persönlichkeit setzt die Wissenschaftslehre ihre Ableitung fort. Ganz etwas anderes ist das Ich, von welchem die Wissenschaftslehre ausgeht: es ist durchaus nichts weiter, als die Identität des Bewusstseyenden und Bewussten; und zu dieser Absonderung muss man sich erst durch Abstraction, von allem Uebrigen in der Persönlichkeit, erheben. - Diejenigen, die da versichern, sie könnten im Begriffe des Ich von dem der Individualität nicht absehen, haben ganz recht, wenn sie davon reden, wie sie im gemeinen Bewusstseyn sich finden; denn da, in der Wahrnehmung, ist jene Identität, die sie gewöhnlich ganz übersehen, und diese Individualität, auf die sie nicht nur mit, sondern beinahe allein attendiren, unzertrennlich vereinigt. Vermögen sie aber überhaupt nicht von dem wirklichen Bewusstseyn und seinen Thatsachen zu abstrahiren, so hat die Wissenschaftslehre alle Ansprüche an sie verloren. <...>



[1] Fichtes sämmtliche Werke. Bd. II. Berlin 1845/46, S. 380-382.

Letzte Aenderung: 22:55 1.10.2005

 
 
 

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